Dampfer noch England

Früher mal sehr bekannt


Von Frankreich nach England – ist das nicht die Verbindung von Calais nach Dover? Denkt man sich so, gerade als Spätgeborener. Aber korrekt ist das nicht. Früher ging es auch von Dieppe aus nach England und von Boulogne-sur-Mer. Gerade der zuletzt genannte Ort war über eine lange Zeit eine sehr beliebter Abfahrtsort in Richtung Insel und fand deshalb auch Erwähnung in einem Maigret.

Während Maigret auf Pietr im Gare du Nord wartete, braute sich über dem Kanal etwas zusammen. Deshalb gab es auch ein Schild, auf dem auf den Sturm über dem Ärmelkanal hingewiesen wurde. Das konnte für die Reisenden, die Richtung England wollten, durchaus Einfluss hatte. Wenn die Fähren nicht fuhren, dann saßen diese in den Hafenstädten erst einmal fest, wie der Kommissar nach seiner aktiven Laufbahn selbst feststellen durfte {MSUDK}.

Ein wenig merkwürdig ist, dass Simenon in dem Zusammenhang schrieb, dass eine Frau, »deren Sohn in den Zug nach Folkestone stieg« bestürzt war. Dazu hätte sie auch jeden Grund gehabt, schließlich fuhr der Zug nicht nach Folkestone, sondern nach Boulogne-sur-Mer. Von dort ging es mit der Fähre zum Hafen Folkestone und erst auf der anderen Seite angekommen, ließ sich die Reise ins englische Binnenland fortsetzen – vorzugsweise wohl nach London.

Was die Überfahrten angeht, so wird in den Maigrets Folkestone nur einmal erwähnt, Calais ebenfalls nur einmal, Dieppe jedoch zweimal. Wenn es darum geht, wie häufig Calais genannt wird, kann konstatiert werden, dass sich das Bild ändert. Da niemand in Calais Urlaub macht, in Dieppe aber schon, taucht letzterer Ort öfter in den Maigret-Geschichten auf. Für Folkestone ändert diese Betrachtungsweise nichts – es gibt nur die eine Erwähnung im Maigret-Werk.

Dabei ist die Geschichte der Verbindung Boulogne-sur-Mer – Folkestone durchaus interessant. 1843 war der Bau der Eisenbahnlinie von London an die Küste abgeschlossen. Anfangs war es noch ein Behelfsbahnhof, aber von dem aus konnte man zum Hafen pilgern, um die Überfahrt anzutreten. Sehr lange ließ eine direkte Anbindung des 1809 gebauten Hafens von Folkestone nicht auf sich warten.

Die »South Eastern Railway« hatte eine schicke Linie, aber die Hoffnung war wohl, dass die Leute von Folkestone aus in Richtung Frankreich reisten. Zu der Zeit war es nicht möglich, das Geschäft einer Eisenbahn-Gesellschaft und eine Reederei zu kombinieren. Deshalb chaterten sie Schiffe bei der »New Commercial Steam Packet Company« und im August 1843 nahm die Linie ihren Betrieb nach Boulogne-sur-Mer auf. Später entstand ein Joint Venture der beiden Gesellschaften.

Mit ein bisschen Lobbyismus schaffte man es, die Volksvertreter davon zu überzeugen, dass es gut wäre, wenn Eisenbahngesellschaften auch Dampfer betreiben dürften. Das hatten sie 1853 erreicht.

Auf der anderen Seite hatte sich auch einiges getan. 1848 gab es eine gut ausgebaute Eisenbahnlinie von Paris über Amiens und Abbeville bis nach Boulogne-sur-Mer. Nun konnte man innerhalb von Paris nach London innerhalb von zwölfeinhalb Stunden reisen. Heute, mit dem Eurotunnel sind es etwa acht Stunden weniger. Die Überfahrt zwischen Folkestone und Boulogne dauerte an die hundert Minuten, daran sollte sich in den nächsten Jahren nichts ändern. Nur die Eisenbahn-Infrastruktur sorgte dafür, dass die eine oder andere Stunde gespart werden konnte.

Calais und Dover spielten damals keine große Rolle, da weder der eine noch der andere Ort eine Anbindung an die Bahn hatte. Erst als sich das änderte, nahm deren Popularität zu – auf die Kosten von Boulogne und Folkestone. Beide Häfen hatten auch damit zu kämpfen, dass sie bei Niedrigwasser schwieriger anzufahren waren. Damit sie wieder in den Wettbewerb zurückfinden konnten, wurden die Häfen erweitert, dass sie als Tiefwasser-Hafen dienen konnten (zumindest einige Quais) und die Bahn-Anbindung wurde nochmals verbessert. Schon 1884 hatte man die Fahrzeit auf der Linie Paris nach London über Boulogne und Folkestone derart reduziert, dass man nur noch acht Stunden benötigte.

Für die Passagiere änderte sich wenig, nur im Hintergrund passierte Wirtschaftsgedöns: Gesellschaften wurden zusammengelegt, verkauft, optimiert – was immer so Wirtschaftsunternehmen auch machen. An der Reisedauer änderte sich nichts. Erst die Einführung des Roll-on-roll-off-Betriebs bei den Fähren optimierte sowohl die Fahrdauer auch die Umschlagkapazitäten.

Das französische Boulogne konnte, was den Fährverkehr nach England anging, lange Zeit wacker mithalten. Für Folkestone wurde es jedoch immer schwieriger. Nachdem der Fokus auf die Linie Dover – Calais gesetzt wurde, und Dover – Boulogne-sur-Mer ins Hintertreffen gerät, gewann die ehemals schnellste Verbindung zwischen Paris und London ein weiteres Mal an Bedeutung. 

Andere Dienste wurden von Folkestone aus nicht mehr angeboten – weder nach Dover noch nach Ostende.

Das Genick brach der Linie letztendlich nicht die Eröffnung des Eurotunnel im Jahr 1993. Der Fährbetrieb spielte schon länger eine untergeordnete Rolle für die Nutzer dieser Linie. Es war die Tatsache, dass die EU den zollfreien Einkauf 1993 abschaffte – die Linie Boulogne-sur-Mer – Folkestone war am Ende nur noch für Butterfahrten bekannt. Dieser Service wurde im September 2000 eingestellt.