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Gewagte Behauptung
Nach der Corona-Epidemie war in den Medien zu lesen, dass eine statistische Kennzahl einen Knick bekommen hat: die Lebenserwartung. Persönlich nehme ich das nicht mit Freude zur Kenntnis und bin nur froh, dass ich Teil des Knicks geworden ist. Einen wesentlich bedeutsameren Einbruch dieser Kennziffer haben die beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert verursacht.
Maigret hatte sich nach New York begeben. Er war im Ruhestand und hatte eine Aufgabe, der er sich nicht gewachsen fühlte. Vermutlich ist es nie eine gute Idee, sich in eine Umgebung zu begeben, in der schlechtes Wetter herrscht, in der man die Gewohnheiten der Menschen nicht versteht und die Sprache derer nur sehr rudimentär beherrscht. Bei dem ehemaligen Kommissar löste das unmittelbar miese Laune aus. Hinzu kam, dass er aus irgendeinem Grund das »Nationalgetränk« der Amerikaner – Whisky – nicht so gut vertrug. Und überhaupt: Statt Bier gab es Cola.
Die Polizisten arbeiteten mit anderen Regeln, und er galt in New York als befreundeter jedoch auch ehemaliger, ausländischer Kriminalbeamter. Zu sagen hatte er nichts. Maigret holte sich Unterstützung in Form eines traurigen, aber Französisch sprechenden Privatdetektivs. Dieser – Roland Dexter – sagte Worte, die mich stutzen ließen:
»Müssen es wirklich sehr alte Artisten sein? Sie sprachen von über Siebzigjährigen. Das ist hier ein sehr hohes Alter. Hier stirbt man nämlich früher.«
Eingangs wurde schon notiert, dass die Kriege einen Einfluss auf die Bevölkerungszahl haben und damit auch auf die Lebenserwartung. Ist ja nicht so, dass man die Kriegsopfer einfach unsichtbar in der Statistik machen kann. Die Delle ist gut zu sehen:
Die Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg werden für Frankreich mit 360.000 Menschen angegeben. Die Vereinigten Staaten hatten 407.316 Tote zu beklagen. Abgesehen davon, dass die Exaktheit dieses Wertes für die Amerikaner sehr überraschend ist, sollte bei der Gegenüberstellung betrachtet werden, dass die Amerikaner an mehr als einer Front kämpften. Bei der Betrachtung sollte zudem berücksichtigt werden, dass die Vereinigten Staaten locker 100.000.000 Einwohner mehr hatten. Die Delle sollte durch die Kriegsopfer in der Statistik sehr viel kleiner ausfallen.
Nun lassen sich viele Maigret-Geschichten nicht genau datieren. Geschrieben wurde diese 1946. Freizügigkeit gab es in der Zeit nicht. Simenon selbst hat in seinen Memoiren geschrieben, wie aufwendig seine Emigration in die USA gewesen war. Dass also der Ex-Kommissar locker flockig eine Überfahrt in den Nachkriegstagen bekam, ist sehr unwahrscheinlich. Von den Kriegstagen mal ganz zu schweigen …
Dummerweise habe ich, was die Lebenserwartung angeht, exakte Zahlen nur für den Zeitraum nach 1946 gefunden. Schaut man sich die für 1946 an, so gibt es folgende Aussage:
Männer | Frauen | |
Frankreich | 59,9 | 65,2 |
Vereinigte Staaten | 66,3 |
Helfen tut eine andere Grafik vom Institut National d'Études Démographiques. Man sieht nicht die exakten Zahlen für Frankreich, bekommt jedoch einen Eindruck, wie es vor dem Krieg ausgesehen haben könnte.
Mit einigem guten Willen ist zu erkennen, dass vor dem Krieg (1939) die Lebenswartung der französischen Frauen bei 62 Jahren lag, bei Männern bei 57. Bei den Amerikaner gibt es ebenfalls Angaben, allerdings nicht getrennt nach Geschlechtern: Da ist für das Jahr von 63,1 Jahren die Rede. Womit die Zahlen auch kombiniert deutlich über denen aus Frankreich lagen.
Achtzehn Jahre zuvor lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei Frauen bei 58 Jahren, bei Männern schätze ich sie auf 52 – die Daten stammen aus der obigen Grafik. Für die USA lagen konkretere Zahlen vor, hier auch wieder kombiniert: 58,2 Jahre.
Schaut man noch weiter zurück, auf den Anfang des 20. Jahrhunderts – da beginnen die Zahlen – da liegt die Lebenserwartung bei den Amerikanern bei 49,3 Jahren. Der Blick auf die Grafik der französischen Statistiker zeigt, dass aber hier der Wert nicht so weit auseinanderlief.
Die Aussage von Dexter ist also definitiv falsch. Vielleicht beruhte sie auf einem Gefühl (»In Frankreich essen die Leute Käse und trinken Rotwein. Das verlängert das Leben!«) oder der Mann wollte sich das Leben leichter machen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass nur Simenon dieses Gefühl hatte und es aufschrieb.