Häuser der Toleranz


Auf der Insel konnte man es sich gut gehen lassen. Maigret moserte herum, dass er Gegenden, die ihm die Motivation zum Arbeiten nahmen, nicht mochte. Lang brauchte es nicht, da hatte er sich der Insel-Lebensart ergeben. Ließ sich das auch von Justine sagen, die auf der Insel lebte, und die eine Bordell-Kette in ihrem Besitz hatte?

Um das Tagesgeschäft musste sich die betagte Dame nicht kümmern. Die einzelnen Häuser – vier oder fünf besaß sie – ließ sie von Angestellten wie Ginette leiten. Über die gesamte Unternehmung wachte ihr Sohn, Monsieur Emile, und den kontrollierte sie.

Damit war – fast automatisch – auch mein Interesse daran geweckt, wie es um die Bordelle in Maigrets Frankreich bestellt war. Als zusätzlichen Service für diejenigen, die keine Lust an längeren Texten haben, sei verraten: Während der Laufbahn des Kommissars, zumindest die längste Zeit, ging das Geschäft in den Puffs gut. (Unter dem Namen sind sie auch in Frankreich bekannt, vermutlich aber mit ein etwas anderen Betonung.)

Der Heilige

Geschichten mit Widersprüchen sind mir die Liebsten: Also wenn ein König, der als Heiliger angesehen wurde, weil er seinem Volk den wahren Glauben und die christlichen Werte vermittelte, der sich auf zwei Kreuzzüge begab, in die Geschichtsbücher als Bordell-Gründer eingeht – ja, da kann ich nicht anders, über solch einen Teufelskerl muss ich ein paar Worte verlieren.

Gehen wir kurz davon aus, dass es einen Gott gibt, der über uns wacht und der für jeden von uns eine Strichliste in Tabellenform führt. In der einen Spalte stehen die guten Sachen und in der anderen Spalten die weniger guten. Das hört sich sehr aufwendig an, aber ehrlich gesagt, wir haben die Computer irgendwann erfunden – so ein himmlisches Wesen wird das gewiss schon zuvor effektiv organisiert haben. Über den Aufwand, der da betrieben wird, müssen wir uns keine Gedanken machen. Die Schwierigkeit besteht in der Entscheidung, welche Taten mit welchem Vorzeichen versehen werden.

Also schauen wir in die Spalte mit den positiven Dingen, die König IX. betreffen, der als der heilige Louis bekannt wurde:

  • Bevor zwei Parteien einen Krieg beginnen, mussten sie sich vierzig Tage zurückziehen und über die Sinnhaftigkeit nachdenken. Erst danach durften sie aufeinander losgehen. Wer sich nicht daran hielt, konnte Probleme mit dem König bekommen. Zwar war es nicht seine Idee gewesen, aber er bekräftigte diese Regel.
  • Die Abschaffung der Folter sollte während seiner Herrschaft nicht erfolgen, aber er milderte sie ab. Das sollte man ihm anrechnen. Die Folter selbst wurde in Frankreich in Etappen abgeschafft: 1780 verbot der König die Nutzung von Folter zur Erlangung von Geständnissen; acht Jahre später wurde die finale Folter abgeschafft, mit der man zum Tode Verurteilte dazu bringen wollte, die letzten Geheimnisse preiszugeben.
  • Ein definitiver Fortschritt war die Einführung der Unschuldsvermutung – der Verdacht durfte die Untersuchenden nur nicht bewegen, zur Folter zu greifen, um zu Geständnissen zu kommen. Schließlich war die Unschuldsvermutung nicht viel wert, wenn man auf dieses Mittel zurückgriff. Mir fallen da ein paar sehr clevere Methoden der damaligen Zeit ein, um die Unschuld zu ermitteln, bei denen vermeintliche Hexen gefesselt wurden und anschließend in ein See geworfen wurde. Gingen sie unter und ertranken, so waren sie unschuldig … Andernfalls …
  • Den Herrn wird es vielleicht gefreut haben, dass sich der heilige Louis sich um die Bekämpfung von Blasphemie gekümmert hat. Außerdem stellte er Prostitution und Glücksspiele unter Strafe. Ist natürlich schwierig zu sagen, ob das zählt: Wenn der Herr Gefallen an Blasphemie finden oder es ihm egal sein sollte, dann gehört das nicht auf die Liste. Ansonsten ist der vorangegangene Satz nah an einem Affront.
  • Damit hier noch etwas steht, möchte ich auch erwähnen, dass er sich um die schönen Künste und die Wissenschaft verdient gemacht hat.

Wir sollten davon ausgehen, dass der liebe Gott keine Probleme damit hatte, dass der König zweimal zu Kreuzzügen aufgebrochen war. Ich hege den Verdacht, dass, wenn es ihn gibt, der zweite Kreuzzug, an dem Louis teilnahm, dem Herren nicht gefallen hat. Schließlich ließ er ihn nicht nach Hause zurückkehren und in der Fremde sterben. Das kann Zufall gewesen sein, denn gesund war der Mann in seinem 56. Lebensjahr nicht mehr. Für damalige Verhältnisse war es jedoch ein passables Alter.

Es könnte sein, dass in der Spalte »negativ« die Tatsache steht, dass er mit rabiaten Methoden versuchte, die Juden zum Christentum zu zwingen. Einen endgültigen Fingerzeig dazu gibt es nicht

Übel könnte ihm ausgelegt werden, dass er bei der Bekämpfung der Prostitution nicht sehr erfolgreich gewesen war. Den Misserfolg des Verbotes kompensierte er dadurch, dass er Huren ihre Geschäfte erlaubte und sie zwang diese in Bordellen auszuüben. Ob er nun eine Eingebung hatte oder nur gute Geschichtslehrer, vermag ich nicht zu sagen: Schließlich wurden solch öffentliche Häuser schon im antiken Griechenland und Rom in den Städten betrieben.

Louis IX. mochte nur Gutes im Sinn gehabt haben. So verfügte er, dass diese Häuser weit weg von Kirchen und Friedhöfen zu etablieren seien. Damit hatte er die Institution »Bordell« zwar nicht erfunden, aber das Rotlicht-Viertel. Dieser uns vertraute Begriff dürfte darauf zurückzuführen sein, dass dieses Häuser durch eine rote Laterne gekennzeichnet wurden, die die Hausherrin während der Öffnungszeiten anzündete.

Am anderen Ende

Die Wahrscheinlichkeit, dass es etwa 450 Jahre später eine nahtlose Machtübergabe von Louis XIV. an Louis XV. geben würde, war nicht sehr wahrscheinlich. Dafür war der Sonnenkönig zu alt und starb zu früh. Sein Nachfolger war zum Zeitpunkt des Ablebens erst fünf. Frankreich sollte die nächsten Jahre von einem Vertreter geführt werden – dem Regenten Philipp von Orleans.

Dieser Zwischenherrscher stand für acht Jahre an der Spitze des französischen Staates. Dessen Ausbildung in seinen Jugendjahren war darauf ausgerichtet, ihn entweder zum Militär oder in den diplomatischen Dienst zu bringen. Zeitgenossen beschrieben ihn als intelligent und Fleiß wurde ihm ebenfalls bescheinigt. Nicht so gut kam an, dass er sehr wankelmütig gewesen war.

Mit Kirche und Glauben konnte der Regent nicht viel anfangen. Von ihm wurde erwartet, dass er Messen besucht. Damit es nicht zu langweilig wurde, hatte er im Bibel-Einband Literatur nach seinem Geschmack untergebracht. Eine Reihe von Leuten dürften ihren Spaß gehabt haben, wenn er an hohen kirchlichen Feiertagen Orgien feierte – viele andere hatten dafür nur Abscheu übrig. Frankreich plagten verschiedene Katastrophen unterschiedlicher Natur: Da waren zum einen Seuchen wie die Pest von Marseille und zum anderen wirtschaftliche Probleme wie der Zusammenbruch des Law-Geld-Systems. Die Leute suchen immer einen Grund und Schuldige. Sie machten den Unglauben des Regenten dafür verantwortlich – das alles konnte eine Strafe Gottes sein – und praktischerweise hatten sie somit beides gefunden.

Er war ein liberaler Geist und hielt nichts von Zensur. Bücher, die bisher verboten waren, wurden unter seinem Zepter wieder zugelassen.

Wundert es jemanden, dass in dieser Zeit eine glänzende Epoche der Bordelle begann? Der Herzog verstarb kurz nachdem seine Regentschaft endete. 

Der Thronfolger – Louis XV. – war ein Bruder im Geiste. Wie dem Sonnenkönig vor ihm war ihm eine Ehefrau nicht genug. Mit Madame de Pompadou hielt er sich eine Mätresse, die einen großen Einfluss auf sein Leben und die französische Politik nehmen sollte. Sie verschaffte ihm weitere Geliebte, auch wenn sie peinlich genau darauf achtete, dass diese Frauen nicht zu clever waren – schließlich wollte sie ihre Position nicht gefährden. Rückblickend kann man sagen, dass der König das Grab seines Nachfolgers schaufelte: Er trat in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung, die Nöte der Bevölkerung waren ihm scheinbar egal und auch er macht den Eindruck, ungläubig zu sein. Letzteres war schon deswegen problematisch, da die Herrschaft der Könige gegenüber Volk mit dem Willen Gottes gerechtfertigt wurde – quasi heilig war. Wenn sich nun der oberste Führer und Vater des Landes nicht mehr um den Herrn kümmert, war das kein gutes Zeichen für die gläubige Bevölkerung.

In den letzten Jahren seiner Herrschaft gab es eine neue Entwicklung: Die Sex-Betriebe litten darunter, dass die Dienstleistungen nicht mehr exklusiv in ihren Häusern angeboten wurden. Die Zahl der Frauen, die sich zeitweise prostituierten, stieg erheblich und diese arbeiteten ohne Vermittler. Viele der großen Bordelle erlebten einen Niedergang.

Die Entwicklung wurde durch die Revolution verstärkt. Prostitution wurde nicht länger bestraft und es entstanden viele kleinere Etablissements, in denen man sich vergnügen konnte. Betrieben wurden diese beispielsweise von Hoteliers und Gastronomen. 

In Paris gab es einen regelrechten Sexmarkt an einem Ort, den heute wohl keiner damit in Verbindung bringen würde: dem Palais-Royal. Wenn das sein Erbauer, der gute Kardinal Richelieu, geahnt hätte! Andererseits hatte Philipp von Orleans Anfang des 18. Jahrhunderts den Komplex geerbt – ihm hätte die Entwicklung vielleicht gefallen. Es sprach sehr viel dafür, das sich das Geschäft dort prächtig entwickelte. Boulevards, Theater, Restaurants und Gärten – alles befand sich in unmittelbarer Nähe und der »der Markt« lag im Zentrum von Paris. Einen ausführlichen und aufschlussreichen Artikel über diese Zeit findet sich im Netz.

Dann kam Napoléon und brachte Recht und Ordnung in das System. Die Damen hatten sich zu registrieren, ihre Arbeit und ihre Gesundheit wurden überwacht.

Guide rose

Für den Staat waren diese Häuser eine gute Einnahmequelle. Von dem Gewinn, der erwirtschaftet wurde, mussten 50 bis 60 Prozent abgeführt werden. Für den Betrieb war ein »certificats de tolérance« notwendig. Dieses bekamen nur Frauen – »les mères maquerelles« genannt – die dann die Häuser der Toleranz betrieben. Dieser Fakt ist insofern interessant, denn das bedeutete, dass Monsieur Emile das Geschäft seiner Mutter nicht weiterführen konnte. Er brauchte eine Frau an seiner Seite – beispielsweise Ginette – um in diesem Business bleiben zu können. Dahin gestellt sei, welche Bedeutung diese Regelung in der Praxis für das Eigentum hatte. Vermutlich gab es landauf landab stille Teilhaber, die durchaus Einfluss auf das Geschäft nahmen und nicht einfach nur kassierten. 

Männer übernahmen die Funktion von »Placeurs« – das waren Beschaffer von Nachwuchs für diese Etablissements. Sie suchten in Krankenhäusern in der Provinz nach Frauen, die geeignet waren. Ob die Kundschaft wusste, dass die Rekrutierer sich insbesondere in den Abteilungen für Geschlechtskrankheiten umschauten? Sie wurden nicht nur unter den Lädierten fündig – kleinere Pensionen wurden ebenso auf der Suche nach Personal abgeklappert. Häufig war es wirtschaftliche Not, die die Frauen zur Prostitution brachte. Gerade junge, unverheiratete Mütter sahen in dem Gewerbe die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen.

Damit die Kundschaft einen Überblick hatte, wo das Vergnügen zu finden war, gab es einen »Guide rose«, in den man nicht nur die Adressen fand, sondern auch Beschreibungen und Bewertungen der Häuser. Dieser wurde unter der Hand gehandelt, so viel Diskretion musste dann doch sein.

Ende der 1930er Jahre entstand in Frankreich eine neue Art von Etablissement. Sex spielte weiterhin eine wichtige Rolle, die Unterhaltung der Herrschaften erfolgte jedoch auch mit Kabarett-Elementen. Wer wollte, konnte sich auf den Zimmern dieser Häuser vergnügen – aber ein Muss war es nicht. So erklärt sich auch, dass für solche Luxus-Etablissements wie das »One-Two-Two« und das Pariser »Sphinx« als renommierte Gäste wie Colette, Marlène Dietrich und Jean Gabin genannt werden. In einem anderen dieser Lust-Fabriken singt 1943 die junge Edith Piaf.

Bei den Deutschen waren während der Besetzung diese Häuser auch sehr beliebt – so gab die Wehrmacht, selbstverständlich nur für die Offiziere, Ratgeber heraus, in denen Wissenswertes über die Häuser der Toleranz vermerkt waren.

Schluss mit lustig

Gern wird über diese edlen Etablissements und seine Kundschaft berichtet. Deren Geschichte wurde großformatig auf die Leinwand gebracht. Wer Einlass begehrte, musste mit einer gut gefüllten Brieftasche auftauchen – Frauen, Champagner und Unterhaltung gab es nicht umsonst.

Am unteren Ende der Skala existierten die »Schlachthäuser« und »Soldatenbordelle« – die Angestellten hatten kein schönes Leben. Von Martha Richard wird berichtet, dass sie während ihrer Karriere als Prostituierte bis zu fünfzig Freier an einem Tag bedienen musste, um über die Runden zu kommen. Kein Wunder, dass sie schließlich an Syphilis erkrankte. Der weitere Verlauf ihres Lebens dagegen wirkt schon eher wie ein Mirakel.

Das Wort »Karriere« mag komisch klingen, ist jedoch zutreffend. Sie arbeitete nach ihrer Heilung in einem gehobenerem Haus, in dem sie einen Industriellen traf, der sie heiratete. Im Alter von 26 Jahren gehörte sie zur besseren Gesellschaft, war gut betucht und ganz ehrlich: Das ist der Stoff, aus dem Romanzen gestrickt werden. Sie war die sechste Französin überhaupt, die ein Patent zum Fliegen bekam. Der 1. Weltkrieg kostete ihrem Mann das Leben und sie begann eine neue Laufbahn als Spionin (das ist die überraschende Wendung, die ein guter Film braucht). Sie war genau genommen eine Kollegin von Mata Hari – immerhin hatten sie mit Georges Ladoux den gleichen Chef.

Später heiratete sie einen Briten, der nach zwei Jahren Ehe verschied. Sie war durch eine Rente finanziell abgesichert. Ihre Spionage-Tätigkeit setzte sie im 2. Weltkrieg fort – erneut gegen die Deutschen und wurde zu einer »Heldin der beiden Kriege«.

Nach dem Krieg zog sie im Alter von 56 Jahren in den Stadtrat von Paris ein. Sie kämpfte für die Schließung der Bordelle in der Stadt. Der Punkt der »organisierten Ausschweifung« ist gewiss streitbar, die anderen Argumente waren dagegen sehr stichhaltig: Sie führte an, dass sich das Geschäft in den Händen der Mafia befände und diese von dieser Form der Prostitution profitieren würde. Außerdem hätten viele der Betreiber während des Krieges mit den Besatzern kooperiert. Im Dezember 1945 wurde die Schließung der Häuser in dem Departement Seine beschlossen. Dabei handelte es sich allein in Paris um 177 Bordelle, die eine Genehmigung hatte.

Von ihrem Erfolg ermutigt, machte sich Richard daran, die Etablissements in ganz Frankreich verbieten zu lassen. So wurde 1946 das sogenannten Martha-Richard-Gesetz verabschiedet, das zur Schließung sämtlicher Bordelle in Frankreich führte.

Da es kein Verbot der Prostitution gab, verlagerte sich das Geschäft auf die Straße und der Dame kamen später Zweifel, ob das nach ihr benannte Gesetz wirklich eine gute Sache war. Ihre Aussagen dazu waren widersprüchlich.

Fazit

Alle Geschichten von Simenon, die in Frankreich spielen und in denen Bordelle eine Rolle spielen, müssten vor 1946 spielen. Vorausgesetzt, die Gesetze spielen überhaupt eine Rolle. Danach gab es sie offiziell nicht mehr und ich habe nicht herausgefunden, dass der französische Staat an der Stelle tolerant gewesen wäre. Da in dem Fall  »Mein Freund Maigret« ein zweites Zeit-Indiz eine Rolle spielt – der Train bleu – kann man davon ausgehen, das die Geschichte vor 1940 spielt.