Bildnachweis: Karakuls in Namibia - Public Domain
Halbe und Ganze
Von Simenon heißt es, dass der aktive Wortschatz in seinen Werken sehr gering ist. Für die Beschreibung von Handlungen mag das gelten, aber er schafft es doch immer wieder Begriffe zu verwenden, die ein Nachschlagen unausweichlich machen. Beispielsweise in der Schilderung der Dame aus Vilnius, die in der Jeumont-Geschichte im 106er-Zug nach Paris saß.
Simenon hätte sich damit begnügen können, dass er die Frau in dem Abteil in einem Pelz sitzen ließ. Oder aber, auch eine denkbare Variante, er hätte die Dame mit einem Fell kleiden können, das dem Normalbürger auch etwas sagt. Aber nein!
Er zeigte auf eine ältere Dame, Jüdin wie Otto Braun, dicklich und dunkelhaarig, mit geschwollenen Beinen und in einen Astrachanpelz gehüllt.
Der Begriff lädt zum Stolpern ein. Ich fragte mich, was das wohl für ein Tier wäre – in einer Tierdokumentation war es mir nicht untergekommen und ich hatte auch Zweifel, ob ein solches Geschöpf in meiner Tierkarten-Sammlung zu finden sein wird. (An der Stelle sei erwähnt, dass ich mit dem Sammeln von Tierpostkarten schon vor langer Zeit aufgehört habe – das heißt jedoch nicht, dass ich sie nicht mehr hätte.)
Der Ursprung des Begriffes liegt nicht in der Biologie, er ist vielmehr in der Geografie zu finden. Astrachan ist eine russische Stadt an der Wolga. Hinter Astrachan fängt die Wolga an sich zu verzweigen und mündet schließlich im Kaspischen Meer. Gegründet wurde die Ortschaft 1558, aber schon vorher gab es dort Siedlungen.
Persianer-Mantel
Credits: Public Domain
In der Gegend ist das Karakulschaf zu Hause, eine Rasse, die in der Steppe beheimatet ist. Die Lämmer kommen mit schwarzem, grauen, braunen oder goldfarbenen Fell zur Welt. Während die Wollqualität der Karakule als mäßig gilt, sieht das mit dem lockigen Fell anders aus – interessant sind jedoch nur die Felle der Lämmer. Diese haben kaum das Licht der Welt erblickt oder sind wenige Tage alt, da werden sie geschlachtet und ihre Haut wird, wie man so schön sagt, zu Markte getragen. Das Fell dieser Tiere wird auch als Persianer vermarktet.
Die Felle von Frühchen gelten als etwas Besonderes und werden als Breitschwänze bezeichnet. Problematisch ist hierbei, dass es manche Züchter nicht dem Zufall überlassen, sondern Frühgeburten mit Tricks herbeiführen.
Als Astrachan werden jedoch auch sogenannte Halbpersianer bezeichnet. Sie stammen vom Merluschkaschafen, welche aus Kreuzungen mit den Karakulschafen hervorgegangen sind.
Was die Frau trug, lässt sich nicht genau sagen. Simenon spricht nur davon, dass sie in einen Pelz gehüllt war. Das lässt drauf schließen, dass es sich entweder um einen Mantel oder um eine Jacke handelte.
Diese wurde üblicherweise aus Persianern hergestellt. Muffs und Kragen – kleinere Teile also – wurden aus den nicht so hochwertigen Halbpersianern produziert.