Fécamp bei Sturm

In der Normandie


Mit Simenon im Hinterkopf in die Normandie: Möchte man die Erfahrung machen, Spuren aus den Geschichten in der Realität zu suchen, wird man des Öfteren enttäuscht, kann aber auch Überraschungen erleben. Einen Versuch war es wert. Hier ein aufgefrischter, erweiterter Bericht, der in seiner ersten Fassung im Simenon-Jahrbuch 2004 erschienen ist und auf der Seite verbuddelt wurde.

Erinnerungen sind trügerisch: In diesen sah ich, wie ich mit dem Zug in Dieppe ankam und an einem Quai nah dem Wasser ausstieg. So, wie ich es in Erinnerung hatte, kann es jedoch nicht gewesen sein, wie ich zehn Jahre später bei einem erneuten Aufenthalt in der Stadt am Meer feststellen durfte. Der Bahnhof von Dieppe ist ein gewöhnliches, langweiliges Bahnhofsgebäude – und ja, es hat eine relative Nähe zum Wasser, aber wie es mir vorgestellt hatte, fand ich es nicht vor.

Mein Verhältnis zu Dieppe war und ist getrübt. Die Stadt nahm mich nicht gefangen. Hinzu kam, dass das Hotelzimmer sich nur mit dem Wort schrecklich zu beschreiben war, eine Abstellkammer mit Bett für einen überzogenen Preis. Das Wetter war nicht schön und in den Restaurants wollten sie auch meinen letzten Centime haben. So zog ich es vor, mich am nächsten Tag davonzustehlen.

Der literarische Dieppe-Aspekt

Amüsant ist, dass sich das gespaltene Verhältnis auch im Literarischen widerhallte. Nachdem ich jahrelang nur Maigrets gelesen hatte, wagte ich mich an einem Non-Maigret. »Der Mann aus London« verdarb mir jedoch auf Jahre den Appetit auf Non-Maigrets. War es die dunkle Atmosphäre, das Nebulöse in der Geschichte Simenons? Ich legte den Roman beiseite und blieb bei meinen Maigrets.

Heute vermag ich nicht zu sagen, ob ich erst den Dieppe-Krimi in den Händen hielt oder das Städtchen am Ärmelkanal besuchte. Der Spaziergang durch die Stadt war zehn Jahre später genauso wenig erbauend wie zuvor. 

Da ich die gleiche dumme Angewohnheit habe wie viele andere Menschen auch – an Orte zurückzukehren, die man schon besichtigt hat, um zu schauen, wie sie sich entwickelt haben und ob man »seine« Plätze erkennt – wandelte ich bei meinem letzten Besuch auf den Spuren der eigenen Vergangenheit. Von den Bahnanlagen, wie sie Simenon beschrieb, sind nur noch einzelne Gleise im Pflaster zu sehen. Kräne zeugen von einem regen Hafenbetrieb in der Stadt. Also irgendwie muss doch da was gewesen sein!

Die Geschichte des Bahnbeamten Maloin, der einen Mann nicht retten kann, dafür aber einen Koffer Geld, den er fortan zu verteidigen versucht – vor den eigentlichen Besitzern, vor einem Verbrecher, vor der eigenen Familie und vor sich – nahm mich dann doch noch gefangen. In einem trüben Herbst (oder auch Winter) hatte ich ihn zur Hand genommen und siehe da, die Geschichte passte zu meinen Leseerwartungen.

Der Bahnhof, an dem ich in meiner Erinnerung in Dieppe angekommen war, musste der sein, den Simenon in seinem Buch beschrieben hat. Man kann sich schon vorstellen, wie enttäuscht ich war, als ich bei meinem zweiten Besuch feststellen musste, dass die baulichen Verhältnisse ganz andere waren, wesentlich profaner: Dieses Bahn-Ambiente hatte etwas, was mir Dieppe sympathisch gemacht hatte – nur war er nicht mehr da. Und ich zweifelte an meinen Erinnerungen.

Was aber nicht bedeutet, dass er bei meinem erste Besuch nicht vorhanden war.

Gare de Dieppe-Maritime (Lizenz: Public Domain)
Gare de Dieppe-Maritime (Lizenz: Public Domain)

In dem obigen Bild sieht man, dass es möglich ist, dass ich meine Ankunft im Zug am Hafen erträumt habe; aber nicht ohne Grund. Den Bahnhof gab es wirklich und er hieß Gare de Dieppe-Maritime. Seit 1848 hatte Dieppe einen eigenen Bahnanschluss. Aber vom Bahnhof zum Fähranleger nach England, waren es etwa 800 Meter. Also entschloss man sich, die Bahnlinie zu verlängern und am Ende befand sich dann dieser Halt. Der Komfort für die Reisenden war damit messbar größer geworden.

Die Fährverbindungen von Dieppe aus wurden 1994 eingestellt und ziemlich zügig entfernte man die Gleis- und Bahnhofsinstallationen. Heißt: Da ich meine erste Reise in die Normandie Anfang der 1990er-Jahre unternahm (1992, aber nicht später als 1993), war zum einen der Bahnhof noch vorhanden und es war durchaus auch möglich, dass ich an ihm ankam. Urban renewal is a bitch.

Wir merken uns aber auch: Sollte demnächst wieder eine Verfilmung von »Der Mann aus London« gedreht werden (nun ist ja die letzte noch nicht einmal als Synchronisierung in Deutschland angekommen), und es auch eine Zugszene in der Handlung geben – in der Stadt in der Normandie wird man die Szene nicht gedreht haben!

Museumszug auf dem Weg zum Gare de Dieppe-Maritime (1986) (Lizenz: (c) Didier Duforest – CC BY-SA 4.0)
Museumszug auf dem Weg zum Gare de Dieppe-Maritime (1986) (Lizenz: (c) Didier Duforest – CC BY-SA 4.0)

Weiter zur alten Dame

Es war gar nicht leicht aus Dieppe zu verschwinden. So ganz ohne Auto. Diese Erfahrung, immerhin, teilte ich bei meinem ersten Besuch der Gegend mit einigen Romanfiguren Simenons. Mir drohte kein Ende in einem Hafenbecken, trotzdem war ich froh, diesen Ort verlassen zu dürfen. 

Zwischen Dieppe und Fécamp gab es keine direkte Eisenbahnverbindung. Wer unbedingt mit dem Zug reisen wollte, der hätte sich erst auf den Weg nach Rouen machen müssen (sechzig Kilometer) und von dort aus weiter nach Fécamp (zusätzliche sechzig Kilometer). Die Distanz nach und von Rouen war etwa die Entfernung, die man zu überwinden hatte, um von Dieppe nach Fécamp zu kommen – also ein stattlicher Umweg.

Aber es gab Busse!

Herausgesucht hatte ich mir eine Verbindung, die nicht perfekt war: In einem kleinen Städtchen auf der Strecke, so die Auskunft, gäbe es einen kleinen Aufenthalt – zwei, drei Stunden –, dann würde es weitergehen. Die Fahrt sollte denkwürdig werden. Sämtliche Pläne wurden von dem Busfahrer über den Haufen geworfen. Den ersten Teil der Strecke, absolvierten wir in Rennfahrer-Manier. Die enge und kurvige Straße entlang der Steilküste laden Autofahrer zu besonderer Vorsicht ein. Der Busfahrer war unerschrocken, schien die Strecke sehr gut zu kennen und fuhr in einem äußerst rasanten Tempo auf sein Ziel zu. Die Fahrgäste, den Schweiß auf der Stirn, konnten die landschaftlich attraktive Route indes nicht genießen; mindestens zwei willige Fahrgäste wurden vom Busfahrer an einer Bushaltestelle übersehen und blieben winkend zurück. 

Dann gab es eine Pause, Zeit für mich umzusteigen, so dachte ich. Der Busfahrer eilte schnurstracks auf ein kleines Bistro zu und kurze Zeit kam ein zweiter Bus an, dessen Fahrerin ebenfalls auf das Bistro zueilte. Ich stellte mich auf eine längere Wartezeit ein, aber so lang wurde sie gar nicht. 

Sie kamen wieder, ohne Eile, und mein Bus in Richtung Fécamp wurde von der Busfahrerin übernommen. So stand es nicht im Fahrplan, aber ich wollte (und will) mich darüber nicht beklagen. Der zweite Teil der Strecke wurde gemütlicher absolviert. Die Fahrerin hielt zum Beispiel plötzlich an und unterhielt sich geraume Zeit mit einer Frau, die an einem Gartenzaun stand, bevor es weiter in Richtung Fécamp ging. Die verbliebenen Fahrgäste empfanden diese Fahrweise als sehr viel angenehmer, sie mussten sich noch von den Strapazen des ersten Abschnittes erholen.

Die Anreise des Kommissars

Maigret fuhr mit der Bahn. Die Züge sind heutzutage moderner, fahren dafür auf einem verkleinerten Streckennetz viel seltener. Die Anfahrt von Paris in diese Region hat sich jedoch nicht geändert. Damals wie heute gibt es einen Express von Paris nach Le Havre, der über Rouen führt und auch in La Bréauté hält. Das ist die Station, an der der Kommissar aussteigen musste, wenn er die Urlaubsorte an der Küste besuchte.

Gleich in seinem ersten Abenteuer (»Pietr der Lette«) verschlug es Maigret nach Fécamp. Sein Zwischenaufenthalt an der Station La Bréauté kam ihm vor wie ein Vorgeschmack auf Fécamp. Man kann spüren, dass er nichts Gutes erwartete. Maigret fand den Bahnhof schrecklich, er wird wie folgt geschildert:

Der Bahnhof von La Bréauté, wo Kommissar Maigret um halb acht aus dem Fernzug Paris – Le Havre ausstieg, gab ihm einen Vorgeschmack von Fécamp.
Eine schlecht beleuchtete Bahnhofsgaststätte mit schmutzigen Wänden und einer Theke, auf der ein paar trockene Kuchen vor sich hin schimmelten und drei Bananen und fünf Orangen versuchten, eine Pyramide zu bilden.

Eine spätere Schilderung weicht von dieser Beschreibung etwas ab. In »Maigret und die alte Dame« wird der Aufenthalt wie folgt beschrieben:

Der Bahnhof hatte weder ein Restaurant noch ein Buffet. Nur gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gab es ein Lokal, eine Art Kneipe. Karren von Viehhändlern standen davor.

Lustig, wie sich die Zeiten wandeln ... mal hat der Bahnhof ein Restaurant und mal nicht.

Die Bedeutung der Strecke hat mit den Jahren abgenommen, aber man kann sich sicher fragen, ob zuerst die Fahrgäste weggeblieben sind, die lieber das Auto nahmen, oder ob ein Unternehmen wie die SNCF zu sparen anfing und die Passagiere darauf reagierten.

Heute ist sie ein Schatten ihrer selbst. Den größten Teil der Route von Fécamp nach Bréauté ist der Zug in Langsam-Fahrt unterwegs – heutzutage mit sehr komfortablem Zugmaterial. Mit dem Auto, es muss leider gesagt werden, ist man schneller unterwegs. Kurz vor Fécamp trifft der Fahrgast auf einen kleinen Bahnhof. 

Der Zugbus, wie er hier genannt wird, hält (oder hielt) an der Haltestelle Les Ifs nur gelegentlich. Früher jedoch, wurde mir erzählt, war dies ein großer und wichtiger Bahnhof. Statt einem Gleis, welches heute marode ist, gab es vier Gleise und man konnte Les Ifs als Drehkreuz der Region bezeichnen. Was von der einstigen Pracht geblieben ist, ist ein verwunschener Bahnhof mit einem zweiten Gleis, auf dem Waggons vergangener Jahrzehnte stehen, die liebevoll restauriert werden. In den Maigrets wurde dieses Drehkreuz nicht erwähnt.

Angenommen Maigret müsste heute anreisen, um einen Fall in Fécamp oder Étretat zu untersuchen, er wäre besser beraten, mit dem Flugzeug bis Le Havre zu fliegen und mit dem Taxi in die kleinen Städtchen zu fahren. Auf den Streit mit den Prüfern seiner Spesen-Abrechnung sollte es der Kommissar ankommen lassen. (Anmerkung aus dem Jahr 2024: Bin mir nicht sicher, ob diese Empfehlung von damals so noch Gültigkeit hat.)

Sollte er heutzutage das Abenteuer auf sich nehmen und mit dem Zug anreisen, sähe er bei seiner Ankunft in Fécamp einen McDonald's und eine Kirche. Nun werde ich mir kein Urteil darüber erlauben, wie der Pariser Kommissar zu dem Schnellbräter stände – ihm lag die regionale Küche bekanntermaßen mehr. In den Maigret-Kosmos hätte es nicht hineingepasst. 1972 hatte der erste McDonald's in Créteil, einem Pariser Vorort eröffnet. Es wurde aber nicht von McDonald's selbst betrieben, weshalb das 1979 in Straßburg eröffnete, als das erste offizielle McDonald's Restaurant gilt. Das als französisches McDonald's wahrgenommene Quick ist in Wahrheit eine belgische Gründung und brauchte zehn Jahre, bevor 1980 in Frankreich sein erstes Schnellrestaurant seine Premiere feierte.

Als Maigret im Pietr-Fall in Fécamp ankam, machte er sich zuerst auf den Weg zu einem Fotografen. Die Kriminaltechniker hatten diese Spur hervorgezaubert und dem Kommissar einen Grund geliefert, an die Küste zu fahren. Erfreulich für ihn war, dass diese Fährte nicht nur verwertbar war, sondern auch zu neuen Zeugen führte.

Nach dem Besuch bei einer ehemaligen Kassiererin stürzte sich der Pariser in das Hafenviertel von Fécamp. Simenon schreibt, dass Maigret keine ausgesprochenen Spelunken in der Nähe des Hafens entdecken konnte, aber es hätte ein paar Kneipen gegeben, die von den einheimischen Fischern gemieden wurden. In einer solchen machte er es sich an einem Ofen bequem. Bekanntermaßen zieht es Maigret wie eine Katze zu solchen Wärmequellen. Abwegig war das nicht, schließlich war es in der Geschichte November und der ist in der Normandie regnerisch und kalt. In diesem speziellen Fall war es sogar noch stürmisch …

Solche Kneipen, wie Simenon sie beschreibt, gibt es nicht mehr. Selbst die Bistros in Fécamp, gerade in der Nähe des Hafens, erheben Touristenpreise und richten sich im Ambiente nach dem Geschmack ihrer Klientel. Der Tourismus spielte schon zu Maigrets Zeit eine Rolle in der Stadt, der Fischfang aber dominierte das Leben in dem Ort. Heute ist es andersherum: Man sieht noch, dass es Fischerei gibt, aber nur dann, wenn man sich an den Touristen vorbeigedrängelt hat.

In Fécamp – die Zweite

Wurde in »Pietr der Lette« der Tourismus nur angedeutet, so wurde er in »Maigret beim Treffen der Neufundlandfahrer« in konkreter Form aufgenommen: Maigret und seine Frau sind es, die ihren Urlaub in Fécamp verbringen. Dies nicht ganz freiwillig, denn eigentlich wollte das Ehepaar in seinem Urlaub nach Ostfrankreich fahren.

Jorissen, ein Schulfreund Maigrets, hatte einen Brief geschrieben, in dem er den Fall eines ehemaligen Schülers schilderte, der kaum, dass er in die Fischereiflotte eingetreten war, auch schon in Schwierigkeiten steckte. Man verdächtigte Pierre Clinche, seinen Kapitän umgebracht zu haben. Maigrets Schulkamerad, der als Lehrer in Quimper arbeitete, kamen diese Anschuldigungen sehr unwahrscheinlich vor. Maigret hatte einen Namen und konnte gewiss helfen.

Madame Maigret willigte ein, wenn auch ungern, und so verbrachten sie ihre Ferien in Fécamp mit einer Mördersuche. Sie quartieren sich im »Hôtel de la Plage« ein und dürften dort den schönen Blick auf das Meer, die Bucht und die Steilküste genossen haben. Die Schnitzel waren nicht nach Madame Maigrets Geschmack, der Kommissar kam aber voll auf seine Kosten.

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Zum Beispiel im »Au Rendez-Vous de Terre-Neuvas«, welches zumindest 2004 am Strand von Fécamp unter fast dem gleichen Namen zu finden war. Früher soll es gegenüber den Quais gelegen haben. Vielleicht hat die Erwähnung in den Romanen dem Café eine gewisse Popularität verschafft, sodass ein Wechsel angemessen war. Ich war bei meinem Besuch nicht in der Lokalität – es herrschte aufgrund eines Pfingstfestes gehöriger Trubel auf der Strandpromenade von Fécamp.

Eine andere Sehenswürdigkeit erwähnt Simenon in seinem Maigret-Roman nicht: das Palais Bénédictine. Dieses hat ein Fabrikant im 19. Jahrhundert mitten in Fécamp errichten lassen und es sieht aus wie ein hochherrschaftliches Schloss. Seinen Namen verdankt es einem Kräuterlikör, der in der Gegend hergestellt wird: dem Benediktiner. Ursprünglich wurde der Likör von Mönchen produziert. Nachdem aber die Abtei aufgelöst worden war, verschwand auch erst einmal dieser Likör. Teile der Bibliothek der Geistlichen wurde von einem Beamten übernommen, und in diesem Teil fand sich auch das Rezept für den Likör. Ein Verwandter – ein Fabrikant namens Alexandre Legrand – machte sich siebzig Jahre später daran, die Produktion wieder aufzunehmen und wurde damit schnell wohlhabend – so wohlhabend, dass er diesen Palast errichten konnte. Dieser wird Maigret in einem Restaurant angeboten, er zog dem Kräuterlikör ein Bier vor.

Blick in den Garten des Palais Bénédictine (Lizenz: Public Domain)
Blick in den Garten des Palais Bénédictine (Lizenz: Public Domain)

Jeder Ort an der Küste scheint sein eigenes Kasino zu haben. Fécamp hatte seines – Madame Maigret schlug in einer hochnotpeinlichen Situation vor, dieses aufzusuchen, fand mit ihrem Vorschlag bei den Anwesenden jedoch kein Gehör. Vielleicht hätte das ein Drama verhindern können, vielleicht wäre es aber auch nur der Beginn eines neuen gewesen.

Das Fischerdorf und der mondäne Nachbar

Yport war nie mit dem Zug erreichbar. Meine erste Begegnung mit dem Ort hatte ich anlässlich einer Fahrt nach Étretat. Während dieses Aufenthaltes hatte ich mich auf eine Wanderung von Ort zu Ort begeben. Eine schöne Tour.

Simenon erwähnte in der Geschichte der Neufundlandfahrer-Affäre, dass Yport aus ein paar Fischerhäuschen, ein paar verstreuten Bauerngehöften und Urlaubsvillen bestehen würde, ein Hotel gäbe es auch.

Die Fischer sind verschwunden, die Bauern ebenso. Geblieben sind die Touristen, gekommen ist ein Campingplatz und die Anzahl der Hotels hat sich erhöht, aber nur geringfügig. Yport ist ein kleiner Ort geblieben, durchzogen von kleinen Gassen, die mit dem Auto kaum befahrbar sind. In der Ferienzeit wirkt es überfüllt, einstige Fischerdorfatmosphäre lässt sich dort genauso wenig atmen, wie in dem einst beschaulichen St. Tropez auf der anderen Seite Frankreichs.

Yport damals (Lizenz: Public Domain)
Yport damals (Lizenz: Public Domain)

Wie Maigret nach Yport kam, verschweigt Simenon. Ging er zu Fuß, so hätte er zwei Möglichkeiten gehabt – am Strand entlang, was sicher sehr schön gewesen wäre, aber durch den Kieselstrand sehr mühsam und aufgrund der Gezeiten nicht sicher; oder er wählte auf seinem Weg zum Hauptmaschinisten den sicheren Landweg, der aber sehr bergig ist und sehr anstrengend gewesen wäre. Vermutlich hat Maigret, nachdem er die Wegbeschreibung bekommen hatte, einfach ein Taxi genommen.

Eine Berühmtheit kann man sie nicht nennen, aber sie hat Yport zumindest im Simenon-Freundeskreis eine gewisse Bekanntheit verliehen: Rose. Sie war das Dienstmädchen von Madame Besson aus Étretat (»Maigret und die alte Dame«) und verstarb, weil sie von der Medizin ihrer Madame genascht hatte. Diese wandte sich persönlich an Kommissar Maigret, nachdem sie ihn am Quai des Orfèvres aufgesucht hatte und bat ihn, den Fall in seine Hände zu nehmen.

Calvados bestimmt den Roman um den Mord an dem Dienstmädchen. Stetig nimmt der Kommissar ein Gläschen zu sich, wird von Madame Besson regelrecht mit dem Apfelschnaps betäubt.

Dass der Ort damals, der Roman entstand Anfang der Fünfzigerjahre, schon vom Tourismus lebte, kann man spüren. Die Hotels schließen, wenn die Saison vorbei ist, dann verwaist das Städtchen. Étretat gibt sich mondän, keine Frage.

An so einem Ort fühlte sich die Aufsteigerin Besson wohl. Wohlhabende machten hier Urlaub, hatten hier ihren Ferienwohnsitz. Aber es waren nicht die Reichen. So wurde die alte Dame nicht daran erinnert, dass sie einmal sehr reich gewesen war und »nicht nur« wohlhabend. Das Schloss war weg. Das Haus - »La Bicoque« (dt. »Die Hütte«) genannt - lag am Hang und man musste bergauf gehen, um Madame Besson zu erreichen.

Maigret war das egal. Er hatte Ermittlungen zu führen und nahm dabei zur Kenntnis, dass Madame Besson in Étretat geschätzt wurde und in Yport nicht. Wie sagte der Kollege vor Ort, Inspektor Castaing: »Étretat ist nicht Yport«.

Damals in Étretat (Lizenz: Public Domain)
Damals in Étretat, hinten der berühmte Kreidefelsen (Lizenz: Public Domain)

Mich brachte nicht diese Geschichte nach Étretat, sondern – wie viele andere Touristen auch – der Reiz, den Falaise d'Amont zu besichtigen. Ich sah diesen Kreidefelsen auf dem Buchumschlag eines Frankreich-Baedecker und sagte mir, dass muss man gesehen haben. Diese erste Tour absolvierte ich als Rucksack-Tourist, allerdings zog ich Pensionen und Hotels irgendwelchen Jugendherbergen oder gar Campingplätzen vor und landete bei einer netten, alten Dame, die mich besonders umhegte. Seitdem kehrte ich immer wieder auf einen Sprung in dieses Städtchen ein, meist in früher Morgenstunde, zu der man den Reiz der Felsen fast allein genießen kann. Dass ich damit die Reisezeitpläne jedes Mal durcheinanderbrachte, soll nicht verschwiegen werden – ich bleibe dabei, der Blick auf die Felsen lohnt.

In der Feriensaison ist kein Durchkommen und ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich den Trubel antun möchte. Von den drei größten, bisher erwähnten Orten – Dieppe, Fécamp und Étretat – ist letzterer der Touristischste.

Der Abschluss

Man könnte annehmen, dass mich meine Tour in den 1990er-Jahren von Étretat weiter nach Le Havre geführt hätte. Leider kann ich mich nicht entsinnen, wie ich damals zu meinem nächsten Ziel gelangte. Auf meiner Rucksackreise werde ich den Weg beschritten haben, vielleicht mit dem Bus, sicher nicht mit der Bahn, denn Étretat hat keinen Bahnanschluss mehr.

Bei einer Tour mit einem Auto, die mich später in den 1990er-Jahren erneut in die Normandie führte, kamen wir auch nach Le Havre. Wieder einmal war es während der Ferienzeit und wir fuhren am Strand der Stadt entlang. Mir kam es vor, als wären wir an der Côte d'Azur. Das überraschte mich aus zwei Gründen: Das Wetter in der Normandie ist für einen Badeurlaub sehr unzuverlässig und der größte Teil von Le Havre ist ohne Charme. Die Stadt wurde im Krieg schwer zerstört und musste – ähnlich wie Caen – neu aufgebaut werden. So hat Le Havre einen Stadtkern, der von Bauten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren geprägt ist. Bei sonnigem Wetter mag das zu ertragen sein, bei miesem regnerischen sieht das sehr trübselig aus.

Melancholisch schien auch das Leben von Malétras zu sein. Der Mann – Held eines Non-Maigret mit dem deutschen Namen »Malétras zieht Bilanz« – war einmal erfolgreich gewesen und hatte nach dem Verkauf seines Lebenswerkes viel Geld. Mit der Abgabe seiner Firma waren ihm seine Lebensziele abhandengekommen. Seine letzten großen Projekte waren ein Hausbau und die Heirat einer gleichaltrigen Frau – eine reine Zweckehe. Der Mann wollte ein stattliches Haus bauen und nicht allein darin leben. Von Liebe keine Spur, in dieser Beziehung zählten andere Werte: Das Paar brauchte sich gegenseitig, falls man krank werden würde.

Um nicht gänzlich der Langeweile zu verfallen, kaufte sich der Rentner in ein Geschäft ein, das in finanziellen Schwierigkeiten steckte und »gab« den Geschäftsführer. Zusätzliche Abwechslung verschaffte ihm kurzzeitig eine Geliebte, der er von seinem Reichtum und Status nichts erzählte. Dass sie es erfuhr, war unausweichlich, denn die Bekanntheit Malétras ließ sich nicht mit gesellschaftlicher Geheimniskrämerei vereinbaren. Damit begann eine Serie von Ärgernissen, die darin gipfelte, dass Malétras seine Geliebte umbrachte und nun eine Leiche sowie einen Mitwisser am Hals hatte.

Man ist geneigt anzunehmen, dass die Geschichte für Simenon vor dem Zweiten Weltkrieg spielt. Hätte er um die Modernität der Stadt gewusst, denke ich, wäre sie im Zusammenhang mit dem älter werdenden Malétras und seiner Lebensbilanz sicher erwähnt worden.

In Le Havre entstand zu der Zeit unseres Besuchs ein neues Gebäude – hoch und über die Stadtsilhouette hinausragend: eine Kirche. Zumindest an diesem Aspekt hätte Malétras seine helle Freude gehabt.