Nachnachwort

Irgendwie reingefallen


Für mich werden Nachworte nicht geschrieben. In »normalen« Büchern lese ich sie überhaupt nicht, bei den Simenons nur dann, wenn ich gerade noch die Muße habe. Eigentlich bin ich mit der Geschichte fertig, wenn Simenon unter seine Story die Orts-Datums-Zeile gesetzt hat. Das könnte, wie ich bei »Pietr-der-Lette« feststellte, ein Fehler sein. Da habe ich glatt ein paar Anmerkungen.

Anmerkung 1

Der eine Grund, warum ich die gemeine Überschrift gewählt habe. Gerade habe ich noch diesen blöden Fehler in der Übersetzung von Susanne Röckel gefunden – die im weiteren Verlauf keine derartigen Patzer aufgewies und sich wirklich gut lesen ließ –, da musste ich feststellen, dass der Nachwort-Autor Tobias Gohlis ausgerechnet auf diesen Fehler Bezug nimmt:

Maigret ist kein Wichtigtuer wie der Bahnhofsvorsteher, sondern wichtig.

Nee, nee, nee. Der Bahnhofsvorsteher hat seine Arbeit gemacht und war Ansprechpartner für seine Kollegen.

Der, der als »Wichtigtuer« bezeichnet wird, ist der Kommissar der Bahnpolizei. Und man darf annehmen, dass der Vorfall erst einmal in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Die weiteren Ermittlungen mögen nicht bei ihm liegen. Aber woher sollte er wissen, dass Maigret vor Ort war?

Des Weiteren schreibt er, dass man Maigret kennen würde. Der Bahnpolizei-Kommissar tat das, der Rest der Beteiligten nicht. In späteren Geschichten änderte sich da, aber zu diesem Zeitpunkt der Maigret-Evolution, schilderte Simenon seinen Kommissar nicht als »Liebling« der Presse. Anschließend vergleicht er das Ankommen des Schriftstellers in der französischen Hauptstadt, den bei seiner Ankunft natürlich niemand kannte, mit dem Status, den Maigret als langgedienter Kommissar hat. Das ist schon schräg, oder?

Anmerkung 2

Selbst sein Handwerk führte er als Show vor. Einmal ließ sich Simenon, der für jeden Werbegag zu haben war, vor Publikum in einen Glaskäfig sperren, der erst geöffnet werden sollte, wenn der Roman fertig geschrieben war.

So die zweite Bemerkung von Tobias Gohlis, über die ich stolperte.

Vor einige Zeit hatte ich mich mit den Comics befasst, die das Erwachsenwerden Simenons zum Thema hatten, was gleichzusetzen ist mit seiner Schriftsteller-Werdung. In denen wurde im zweiten Band das »Simenon schreibt im Glaskäfig« thematisiert. Mir war so gewesen, als ob das eine Idee war, weshalb ich noch einmal nachrecherchiert habe.

Eine Ankündigung, dass Simenon das plant, habe ich gefunden. In der Zeitung »Le rappel« wurde am 5. Februar 1927 das Vorhaben angekündigt. Da die Kopie genauso schlecht ist wie mein Französisch, gibt es hier die ungefähre Ankündigung von damals: 

In ein paar Wochen wird in Paris ein ungewöhnliches Ereignis stattfinden: Der Autor Georges Sim hat sich bereit erklärt, in einem Glaskäfig zu schreiben, um die Einführung einer neuen Tageszeitung zu unterstützen, die im Frühjahr erscheinen soll. Er hat mit dem Direktor der Zeitung, Eugène Merle, einen Vertrag abgeschlossen, der vorsieht, dass er Tag und Nacht unter Beobachtung steht, während er an einem Fortsetzungsroman arbeitet. Das Thema, der Titel und die Charaktere des Romans werden vom Publikum bestimmt. Zudem verpflichtet sich Sim, die Arbeit in einem enormen Tempo zu leisten und jede Stunde eine Seite des Manuskripts zu präsentieren, die sofort ausgehängt wird. Dieses Unterfangen wird sicher für Diskussionen sorgen, denn diese Art des Schreibens ähnelt eher einem sportlichen Wettkampf als dem herkömmlichen Literaturprozess.

Hier und da wurde das Vorhaben in folgenden Wochen von anderen Pariser Blättern erwähnt. Aber immer nur in der Form »hat angekündigt« oder »plant der Schriftsteller Georges Sim«. Zu erwarten gewesen wäre, ein ausführlicher Beitrag in der Zeitung. Dazu natürlich ein Bild und eine ausführliche Strecke in einer Illustrierten. Wenn schon Marketing, dann richtig.

Da es keine fotografischen Beweise gab, komme ich auf das zurück, was ich dem Comic jüngst entnommen habe: Dieses Schreibevent hatte nie stattgefunden. Nun werde ich, auch wenn es ein Biopic ist, vermutlich geschlagen, wenn ich ein »Malbuch« als Referenz für eine Tatsache angebe. Deshalb habe ich in der renommierten Simenon-Biografie von Eskin nachgeschlagen. Hintergrund dieses Marketing-Manövers war, dass Simenon mit dem Pariser Verleger Eugène Merle in Kontakt kam. Dabei handelte es sich um einen umtriebigen Mann, der kreativ und umtriebig war – dabei nicht immer erfolgreich war, aber bereit war, nach dem Hinfallen auch wieder aufzustehen. Den »Paris-Soir« hatte er 1923 aus der Taufe gehoben, aber um 1927 die Kontrolle über die Publikation verloren. 

Simenon engagierte er in diesem Jahr für ein paar Monate, der Herausgeber einer der Zeitschrift, in der Merle im Hintergrund wirkte. Aber dann ging auch da das Geld aus und der Schriftsteller wusste schon, wie es finanzielle Kraft seines Finanziers, dessen Tricks und Gewohnheiten stand: Immer wieder pflegten Schecks zu platzen, eine gewisse Vorsicht war angebracht.

Der Merle seinen »Soir« nicht mehr sein Eigen nennen konnte, wollte er eine neue Zeitung gründen: »Paris-Martinal« (eigentlich sollte sie »Paris-Martin« heißen, aber mit dem »Le Martin« waren wohl Namensstreitigkeiten unvermeidbar). Zu diesem Zweck bot er Simenon 50.000 Francs, wenn er in den Glaskäfig steigen würde. Der Vertrag war geschlossen, der Käfig war gebaut … nur das Glaskäfig-Event hat es nie gegeben. Denn Merle war nach wenigen Ausgaben mit seiner neuen Zeitung pleite.

Selbst Freunde, so heißt es bei Eskin, haben Jahre später noch auf dieses Event angesprochen und meinten, sie hätten an die Scheibe geklopft. Schwer möglich, wo es nie stattgefunden hat. 

In dem Comic wird es so geschildert, dass Simenon gar nicht wohl dabei gewesen ist, nachdem er den Glaskasten gesehen hatte, sich darin aufzuhalten und zu schreiben. Außerdem hieß es dort, dass er immerhin die Anzahlung behalten konnte.

Anmerkung 3

Maigrets Rang ist auch Voraussetzung für seine Ortsungebundenheit. Er kann dorthin, wo seine Fälle es verlangen, etwa in den normannischen Hafenort Fécamp.

Diese Aussage ist nicht korrekt. Der Grund für diese Unabhängigkeit ist die Tatsache, dass sich Simenon in seinen ersten Maigret-Romanen mehr an seinen Trivial-Abenteuer-Erfahrungen orientierte, denn an den Regeln, die die Polizei-Beamten-Welt vorgibt. In späteren Geschichten nimmt sich Maigret/Simenon diese Freiheit nicht mehr. 

Die Begründung dafür wird dabei mitgeliefert: Maigret hat schlicht keine Zuständigkeit. Entweder er wurde angefordert oder er holte sich die Erlaubnis von seinem Chef, der die Angelegenheit administrativ regelte.

In den einzelnen Gebieten gab und gibt es zuständige Kommissare, und die mögen es überhaupt nicht, wenn in ihrem Revier gewildert wird. 

Anmerkung 4

Der Pietr-Roman hat, wenn man sehr großzügig rechnet, fast einhundert Jahre auf dem Buckel (na, gut 95 …). Die Zeiten haben sich geändert und an manchen Stellen ist man heute sensibler. Ich bin kein Fan davon, die Texte von damals umzumodeln. Der Nachwortautor schreibt völlig korrekt und auch nachvollziehbar, dass sich Simenon mit dem Roman in einem Umbruch seines Schaffens schaffte. Manchen Trivial-Ballast hatte er noch nicht abgeworfen. So schreibt Tobias Gohlis in seinem Nachwort:

Auch die tränendrüsenbetonte Schilderung des Ghettos bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensbedingungen, die dort herrschen, ist trivialer Umgang mit Milieu.

Einen Aspekt, der sich nicht mit er »Groschenliteratur« erklären lässt, wird von ihm nicht berücksichtigt: Wie problematisch die Schilderung von Anna Gorskin und auch Maigrets Umgang mit der Frau aus heutiger Sicht ist. (Genau genommen geht es schon mit der Schilderung des Hotelbesitzers los …)
Nehmen wir beispielsweise diesen Auszug aus dem sechsten Kapitel des Buches:

Sie wirkte älter als die fünfundzwanzig Jahre, die im Melderegister angegeben waren. Was zweifellos an ihrer Herkunft lag. Wie viele Jüdinnen ihres Alters war sie füllig geworden, ohne aber eine gewisse Schönheit zu verlieren. Die Augen, sehr dunkle Pupillen in reinem, leuchtendem Weiß, waren bemerkenswert. Doch etwas Nachlässiges in ihrer Erscheinung verdarb diesen Eindruck. Die schwarzen fettigen, ungekämmten Haare fielen ihr in dichten Strähnen in den Nacken.

Hier finden wir reihenweise stereotype Formulierungen, um die Jüdin zu beschreiben. Die Äußerungen über das Aussehen der Frau, einschließlich ihrer angeblichen »Fülligkeit«, sind einfach platt. Da die Religion überhaupt keine Rolle in der Geschichte spielt, stellt sich die Frage, warum sie fortwährend erwähnt wird. An anderen Stellen nutzte Simenon schließlich auch nicht eine Charakterisierung wie »Katholik« und »Protestant«, sondern bezog sich auf die Herkunft – was die Angelegenheit nicht besser macht, wenn man diese mit vermeintlich allgemeinen Eigenschaften verbindet, die nur in der Einbildung existieren.

Der Vater von Anna Gorskin lebte in Vilnius – da kann eine baltische Abstammung oder eine polnische vermutet werden. Wer nun der Meinung ist, das wäre kleinlich, stelle sich einen solchen Text vor, in dem fortwährend von »die Protestantin« die Rede ist. Das würde uns extrem albern vorkommen.

Die Problematik ist, dass diese Stereotypen als antisemitisch angesehen werden können. An anderer Stelle habe ich mich schon mit Vorwürfen dieser Art gegen Simenon beschäftigt und ihn in gewisser Weise verteidigt. In Bezug auf den Pietr-Roman kann ich das jedoch nicht.

Nun ist mir klar, dass ein Nachwort auch immer eine freundliche Geste gegenüber dem Verlag oder dem Verleger ist. Da will man nicht zu dick auftragen mit der Kritik. Diese Rücksicht, gebe ich zu, muss ich nicht nehmen. Wäre trotzdem schön gewesen, gerade in den heutigen Zeiten, so das Thema wieder ärger wird, wenn es erwähnt worden wäre.