Java


Der Typ, der G7 und seinem Begleiter auf Grand Langoustier entgegenkam, war grobschlächtiger Natur. Wer begrüßt Gäste, selbst wenn sie nicht eingeladen waren, schon mit einem Revolver und versucht, einen Hund auf sie zu hetzen? Andererseits heißt es, da wo gesungen wird, lass dich nieder, böse Leute haben keine Lieder. Bei Monsieur Henry spielte aber Musik. Aber was für welche?

Der Polizist versuchte herauszubekommen, was es mit dem Verschwinden von drei Frauen auf sich hatte. Monsieur Henry legte es darauf an, seinen Besuch – wo er schon da war – so schnell wie möglich betrunken zu machen. Er hatte ein Schallplattenspieler im Garten, offenbar ein mobiles Gerät, bei dem man wie bei einer Uhr eine Feder aufspannte und anschließend der Musik lauschen konnte.

Er stand auf, ging zu den Schlangenhäuten, um nachzusehen, wie weit sie schon getrocknet waren, und zog das Grammofon auf, das auf einem Tischchen stand und nun einen Java spielte.

Hätte nur noch gefehlt, dass einer der Herren aufgestanden wäre und eine Damen auf dem Gehöft zum Tanzen aufgefordert hätte. Dankbar können Leser:innen zur Kenntnis nehmen, dass der Kontext diesmal klar ist. Es geht beim »Java« um einen Tanz. Indes habe ich Zweifel, ob heute jedem klar ist, um was für einen Stil es sich handelt.

Wer recherchiert, wird erst einmal auf die Musette-Schiene gelenkt. Unter einem Musette versteht man einen französischen Volkstanz. Wie bei einem Walzer spielt die Musik im ¾-Takt. Bestimmendes Instrument ist typischerweise das Akkordeon. Da ein Valse Musette eher formal getanzt wurde, entwickelte sich in den 10er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Paris ein neuer Tanz: der Java.

Die Herkunft des Begriffs ist nicht eindeutig geklärt: Die Erklärung, dass es einen Zusammenhang mit der Insel Java gäbe, liegt auf der Hand – allerdings gibt es weder Belege dafür, noch geben es weder die Art des Tanzes oder die Musik eine solche Verbindung her. Im »Dictionnaire culturel en langue française« von 1922 wird dagegen behauptet, dass es aus der Umgangssprache kommt. »Faire la java« bedeutet so viel wie »Party machen« oder »einen draufmachen«. Das trifft es eher, aber ob es richtig ist, will damit noch lang nicht gesagt sein.

Wessen Kind ist der Tanz?

Der Tanz entstand in Paris, das gilt als einigermaßen gesichert. Später wurde der Java eher in der Provinz denn in der Hauptstadt getanzt. Kenner sind der Meinung, dass es Verbindungen zum Scottish gibt (was den Rhythmus und die Schrittfiguren angeht), andere sehen Spuren des italienischen Mazurka. Getanzt wird der Java in kleinen, kurzen Schritten – gedreht wird sich kaum. 

Der Tänzer legt oft die Hände auf das Gesäß der Tänzerin (vor Jahren wurde schon beklagt, dass diese Tradition verloren gegangen wäre – die Frage ist nur, wer es genau beklagte). Die Partnerin hängt ihre Hände um den Hals des Mannes. Ein Nahtanz, hätten wir früher als Jugendliche gesagt. Das hört sich so ungezogen an, wie es wohl von manchen Leuten auch empfunden wurde. 

Dieses Ungezogene ist in den alten Filmen, zum Beispiel mit Jean Gabin, nicht zu beobachten. Aber die bemerkenswerte Nähe der beiden Tanzpartner ist auffällig. Eine Erklärung für die Entstehung ist, dass die Tänzer:innen einen einfachen und sinnlichen Tanz suchten. Der andere, interessante Aspekt ist, dass die Tanzlokale oft sehr überfüllt waren und das Tanzen von Java wenig Platz benötigt.

Mitte des 20. Jahrhunderts geriet der Java in Vergessenheit. Liest man von ihm und hat keine Ahnung, was gemeint ist, ist das demnach keine Lücke in der Allgemeinbildung. Als Nichttänzer, wie ich einer bin, mal schon gar nicht.

Volks...

Was mir ganz abgeht, sind nationalistische Gefühle und Stolz auf irgendein Volk. Das Brimborium der Amerikaner und Franzosen sehe ich genauso kritisch wie die Fahnen-Wedelei  zu den Weltmeisterschaften. 

Ich gebe zu, dass mich die Begrifflichkeit »Volks…« triggert und ich bei Wortschöpfungen wie »Volksversicherung«, »Volksmüsli« oder »Volkstelefon« und was so alles in den letzten Jahren entstanden ist, Bluthochdruck bekomme.  Meist geht's nur ums Geldverdienen. Aber ich habe den Eindruck, dass oft nur billiger Krams genommen wird, der schwarz-rot-gold-farben angemalt und mit dem Namen »Volk« als Präfix versehen wird. Ich stehe dann oft kurz vor einem Anfall.

Lese ich zusammengesetzte Wörter mit »Volk«, die mir nicht geläufig sind, werde ich hellhörig. »Volkstanz« ist genauso okay wie »Volkstanz«, aber das …

Genau da setzte Monsieur Henry die Nadel mit geübtem Griff wieder auf dieselbe Schallplatte, und schon spielte das Akkordeon seinen Volksjava.

Mich interessierte, was Simenon im Original schrieb und ob sich da ein »Volksjava« ableiten lässt.

Précisément, M. Henry, d'un geste machinal, remettait l'aiguille sur le même disque et l'accordéon reprenait sa java canaille.

In dem Fall dreht es sich um den Begriff »canaille« – die klassische Übersetzung für das Wort als als Adjektiv wäre »unverschämt«, als Substantiv wird es mit Halunke und Schurke übersetzt. Zwar gibt es auch die Verbform »s'encanailler«, welches ausdrückt, dass man sich mit den unteren Schichten des Volkes gemein macht. In meinen Augen ist das unpassend.

Will man irgendwas mit »Volk« im Französischen kombinieren, wird üblicherweise »populaire« oder »national(e)« gewählt. 

Selbst mit meinen amateurhaften Französisch-Kenntnissen würde ich bei der Übersetzung nicht mitgehen. Mit dem frisch erworbenen Wissen über den Tanz, passt »unverschämt« viel besser – so wurde er schließlich in gewissen Kreisen gesehen. Betrachtet man das schamhaftes Verhalten des Erzählers am Plage d'Argent, so ist das ein starkes Indiz dafür, dass er der Musik kritisch gegenüber stammt. Die Nase rümpfte, wie so schön gesagt wird. 

Bonus

Bleiben als Bonus noch die beiden versprochenen Links, um zu betrachten, wie der Java getanzt wird. Der erste Link ist eine Sammlung von Ausschnitten aus Filmen, in denen Java getanzt wird; der zweite eine Link zu einem Film-Ausschnitt mit Jean Gabin, in dem dieser einen Java tanzt und singt.

»On Danse La Java«

Jean Gabin – »Viens Fifine«