Georges Simenon leicht unzufrieden

Die Urväter


Monsieur François Gayot de Pitaval war ein Spätstarter, was die Juristerei anging. 1673 in Lyon geboren, ging er in seiner Jugend nach Paris, um Abt zu werden. Eine Laufbahn in der Kirche erschien ihm nicht attraktiv, weshalb er in die Arme ging. Ziemlich spät fing er an, sich für die Rechtswissenschaften zu interessieren und begann ein Studium. Damit machte er sich einen Namen.

Über das Alter, in dem er in dem neuen Metier zu arbeiten begann, gibt es unterschiedliche Angaben. Sowohl der Zeitraum um seinen vierzigsten Geburtstag wird genannt, wie auch ein Alter von fünfzig Jahren. Während der Beginn seiner Juristen-Karriere sich sehr vage datieren lässt, sieht es mit dem Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit anders aus: Schon ab dem Jahr 1716 fing er an, Bücher zu veröffentlichen. Bekannt wurde er mit seinen Prozessberichten. In diesen waren nicht nur Fälle aus seiner Zeit, die er betreut hatte, zu finden. Es fanden sich auch Berichte über Begebenheiten zweihundert Jahre zuvor.

Die Sammlung mit dem Namen »Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées« (dt: »Berühmte und interessante Fälle mit den gefällten Urteilen«) erschien von 1739 an in zwanzig Bänden. Spätere Editionen waren durchaus umfangreicher.

Juristische Abhandlungen wurden auch schon vor Pitaval geschrieben, sie beschränkten sich jedoch auf das Formale. Das Neue an den Beschreibungen war, dass er die menschlichen Aspekte berücksichtigte und die Aufdeckung der Tat schilderte. Obwohl Teil des Rechtssystems, war Pitaval kein Anhänger der französischen Justiz. Er prangerte die mangelnde Entwicklung in der Justiz an wie auch die herrschende Korruption. Die Kritik an den Urteilen zielte nicht in erster Linie darauf ab, das Publikum zu unterhalten, sondern könnte als Belehrung der Berufskollegen verstanden werden – nichtsdestotrotz entwickelte sich sein Werk zu einem Bestseller.

Diese Fallsammlung wurde zum Sammelbegriff für andere Publikationen gleicher Art und als der »Pitaval« schaffte er es auch in deutsche Gefilde, teilweise in Übersetzungen (wenn auch nur in Zusammenfassung). Teilweise inspirierten die geschilderten Fälle Schriftsteller zu Adaptionen. Früher thematisierte ich schon die Affären um Marie-Madeleine de Brinvilliers und Catherine Monvoisin, die beispielsweise E. T. A. Hoffmann anregten, »Das Fräulein von Scuderi« zu schreiben.

Könnte man in François Gayot de Pitaval den Urvater des französischen Kriminalromans sehen? Eine Möglichkeit wäre es. Aber vielleicht hält man sich an den, der den ersten Krimi schrieb: Émile Gaboriau.

Der erste Polizist

Eine Inspiration für Schriftsteller war nicht nur Pitaval, auch Vidocq kann sich hier einige Verdienste zuschreiben. In seinen Memoiren beschrieb er sein Leben als Verbrecher und Polizist – allzu oft klingen die Geschichten so fantastisch, dass man annehmen muss, dass den Mann seine Fantasie übermannte. Die Figur war aber zum Beispiel eine Inspiration für Balzac (bei ihm Vautrin genannt) und sie inspirierte auch den französischen Autoren Gaboriau.

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Émile Gaboriau

Credits: Public Domain

Der aus dem südwestfranzösischen Saujon stammende Gaboriau wurde 1832 geboren. Zumindest was seinen Bildungs- und Berufsweg anging, dürfte der Spross eines Finanzbeamten seinen Eltern einiges an Kopfzerbrechen bereitet haben. Mit dem Studieren hatte er es nicht so, weshalb er als Schreiber in einer Anwaltskanzlei arbeitete, sich dann für die Armee verpflichtete und nach Afrika ging. Anschließend zog es ihn zurück in die Kanzlei, bevor er Sekretär wurde – erst war Gaboriau als solcher einen englischen Chemiker beschäftigt, später für einen Richter. Der Sekretärs-Laufbah schloss sich ein Jura- und Medizin-Studium an, eine Kombination, die sehr merkwürdig anmutet. Da er nirgendwo als Mediziner oder Rechtsanwalt geführt wird, lässt sich davon ausgehen, dass er beide Studiengänge nicht abschloss.

Dafür begann er sich seinen Lebensunterhalt durch das Schreiben von Kolumnen zu verdienen. Wiederum nahm er eine Stelle als Sekretär an, diesmal bei Paul Féval, der ihn für den Journalismus begeisterte.

1861 schrieb er einen historischen Roman »Les Cotillons célèbres«, der sich mit den mächtigen Frauen innerhalb der französischen Monarchie auseinandersetzte, bevor er sich in »Le 13e Hussards« mit der Armee, insbesondere den Husaren, auseinandersetzte – Erfahrungen konnte er in diesem Bereich vorweisen. Er schrieb in dem Jahr auch »La Marquise de Brinvilliers«, der bekannten Giftmörderin, deren Fall, wie zuvor schon erwähnt, dokumentarisch Teil des Ur-Pitavals war. Naheliegend ist, dass sich Émile Gaboriau an den Berichten orientiert hat, die der Rechtsanwalt im 18. Jahrhundert hinterlassen hatte.

Ein Meilenstein war jedoch sein Roman »L'Affaire Lerouge«, in dem er erstmals einen Sicherheitsbeamten namens Lecoq als Figur ins Spiel brachte. Émile Gaboriau kreierte eine neue Facette in dem Genre: Der später zum Kommissar aufsteigende Lecoq verhielt sich wie ein Detektiv, wie wir ihn kennen. Das heißt, er verstellte sich, wenn es sein musste, und er hatte deduktive Fähigkeiten. Die von Gaboriau geschilderten die Fälle Lecoqs spiegeln in realistischer Weise die damalige Arbeit der Polizei wider.

Seine außerordentlich subtilen psychologischen Analysen, zum Beispiel in »Le Crime d'Orcival« (dt.: »Das Verbrechen von Orcival«) waren eine Quelle der Inspiration selbst für Georges Simenon. Im Unterschied zu diesem blieb das Werk Gaboriaus übersichtlich, was nicht nur seinem späten Einstieg in die Schriftstellerei geschuldet ist, sondern auch seinem frühen Tod im Alter von 41 Jahren.

Weitere Impulse

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Gaston Leroux

Credits: Public Domain

Gaboriau war gerade auf der Höhe seiner Schaffenskraft als Schriftsteller, da wurde 1868 in Paris Gaston Leroux geboren. Sein Weg war ohne Zweifel geradliniger: Leroux studierte ebenfalls Jura, praktizierte ein wenig, aber seine Liebe zum Schreiben überstieg wohl seine Leidenschaft zum Studieren von Akten. So widmete er sich dem Journalismus und der Schriftstellerei. Erste Erfahrungen hatte der Mann schon zuvor gesammelt. 

Seinen Weg im Journalismus beschritt der junge Mann im Alter von etwas über zwanzig Jahren. Leroux schrieb Kritiken über Theateraufführungen und war das, was man heute Blaulicht-Reporter nennen würde. Erst arbeitete er für das »L’Écho de Paris«, bevor er vom »Matin« engagiert wurde. Aus der Ecke des doch er anrüchigen Kriminalmilieus kam Leroux heraus und berichtete als Korrespondent aus den verschiedensten Ländern. Seine Reportagen aus europäischen Gefilden, aber auch aus Afrika und Asien machten ihn sehr bekannt.

Nach dem Motto, wenn es am schönsten ist, sollte man gehen, entschloss er sich sein Reporterleben aufzugeben und widmete sich ab 1907 dem Schreiben von Romanen. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte er »Das Geheimnis des gelben Zimmers« – die Schilderung eines Kriminalfalls um ein Verbrechen in einem verschlossenen Raum, der als Klassiker in der französischen Kriminalliteratur gilt.

Bekannt geworden ist sein Roman »Le fantôme de l’opéra« – ein Rätseln ist nicht notwendig, ganz klar, dass es sich um die Vorlage für den Film und das spätere Musical »Das Phantom der Oper« handelt.

Drei Jahre vor Leroux erblickte in Rouen Maurice Leblanc das Licht der Welt. Sein Vater war Reeder und war nicht begeistert davon, dass der Sohn nach Paris ging, um dort als Schriftsteller zu arbeiten. Auch Leblanc war anfangs Journalist, der sich Kriminal- und Abenteuergeschichten verschrieben hatte. Obwohl sein Wirken Theaterstücke und Kurzgeschichten umfasst, ist sein Name mit einer Figur verbunden, die noch heute gern verfilmt wird: Arsène Lupin. Seit 1905 wurden die Geschichten über den brillanten Dieb veröffentlicht, der vom Publikum so enthusiastisch aufgenommen wurde, dass Leblanc keinen Grund sah, von Lupins raffinierten Täuschungen abzuweichen und davon zu erzählen. Bis 1935 erschienen zwanzig Romane plus einiger Theaterstücke und Kurzgeschichten mit dem Helden im Fokus. 

Jump

Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass keine kommerziellen Interessen hinter den einzelnen Beiträgen stehen. Was nicht heißt, dass sie nicht wem im geschäftlichen Sinne nutzen könnten: Mir fielen da die Erben Simenons, die Verlage, Produktionsgesellschaften von Filmen ein. Der Konjunktiv macht aber deutlich, dass ich dem keine große Bedeutung beimäße. Wem jetzt noch einfällt, dass die Beiträge hier in Bücher gepackt und verkauft werden, dem möchte ich noch auf dem Weg geben, dass dies – wie diese Webseite – ein reines Vergnügen ist. Der Begriff, den mein Steuerberater wählen würde, wäre »Steuerliebhaberei«: Kostet, bringt aber nichts ein.

Mein Bestreben ist es, gut lesbare Texte zu verfassen, die meine Leser:innen interessieren könnten und akkurat sind. Die Leute der BILD-Zeitung bemühen sich auch, Artikel zu produzieren, die für die Leserschaft optimal konsumierbar, allerdings mit einem eigenen, sehr knappen Stil und mit gewissen Defiziten in der Akkuratesse. Anderswo ist man schon weiter, und es kümmert dort weder das eine noch das andere. Das Ärgerliche: Die verdienen Geld damit.

Mein Ärgernis begann mit einer Überschrift:

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Georges Simenons »Maigret« kommt in die Kinos – der Urvater der französischen Krimis

Nun lässt sich trefflich darüber streiten, wer hier als Urvater gemeint ist: Maigret oder Simenon. Aber letztlich ist eines klar: Weder der eine noch der andere sind Urväter von irgendwas im Sinne davon, dass sie die Erfinder einer Gattung gewesen wären.

Der Beitrag, in dem ich über diese kühne Behauptung stolperte, entstand zum Zeitpunkt, als der Maigret-Film mit Depardieu in die Kinos kam. Wahrgenommen habe ich ihn erst jetzt, da in einem – nennen wir es mal – Werbeartikel im Internet aus der Ippen-Gruppe darauf verwiesen wurde.

Schön in dem Beitrag, der Klappentexten und Marketingtexten von Kampa und Atlantik besteht, ist folgender Absatz:

2018 war das Jahr für den Kampa Verlag. Nach dem Start des jungen Verlags sicherte sich Daniel Kampa das Gesamtwerk von Georges Simenon (1903-1989). In der neuen Verfilmung spielt Gérard Depardieu Kommissar Maigret, der als einfühlsamer Ermittler den Tod einer jungen Frau in Paris aufzuklären hat.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Es ist mir ein Rätsel, wie man diese beiden Aspekte in einem Absatz unterbringen kann. Abgesehen davon, dass Daniel Kampa die Rechte schon 2017 hatte – mithin vor dem ersten Programm des Verlages.

Nachdem darauf folgenden Klappentext zu dem Buch werden ein paar biografische Fakten genannt, einschließlich der Tatsache, dass er Maigret erfunden habe, gefolgt von dem Hinweis, dass die Verfilmung ab dann und dann im Kino zu sehen wäre.

Es gibt ein Emoji für solche Fälle: Facepalm.

So soll Journalismus nicht sein und ich hoffe auch nicht, dass Journalismus so wird. Einfach irgendwelche Texte zusammen kopieren, lieblos zusammenwürfeln, für die Suche im Netz optimieren – damit machen sich Journalisten überflüssig und jeder darf getrost schwarz sehen. 

Ich hatte anfangs vermutet, dass vielleicht ChatGPT sprich Werkzeuge mit künstlicher Intelligenz, den Text fabriziert haben könnten. Mittlerweile habe ich einige Zweifel daran. So schlecht sind die Tools nun auch wieder nicht.

Wenn wir dem Artikel, den ich nicht verlinken werde, der aber dank des Zitats leicht auffindbar sein wird, eines verdanken, dann einige Erkenntnisse, wer die wahren Väter des französischen Kriminalromans sein könnten.