Bildnachweis: Zwei Männer - maigret.de/Leonardo AI
Klischee und Menschlichkeit
Keine Handvoll Einträge ist es her, dass ich mich darüber mokiert habe, dass Simenon Stereotypen bei der Schilderung von Juden nutzte und das dies für die Geschichte irrelevant war. Dies ist insbesondere ein Thema in den ersten Maigrets. Nach »Maigret und der Verrückte von Bergerac« von 1932 kam Simenon erst wieder 1949 in »Madame Margrets Freundin« auf einen Juden zurück.
Ohne valide Quellen liefern zu können, bin ich mir ziemlich sicher, dass dies auch in seinem Non-Maigret-Werk zu beobachten sein dürfte. Mir ist beim Lesen von »Der Untermieter« in den Sinn gekommen, dass Simenon vielleicht eine Entwicklung durchlaufen hat. Ob diese nun ein intrinsischer Vorgang war oder der Schriftsteller von außen getriggert worden ist, vermag ich nicht zu sagen (und mir ist auch keine Literatur dazu bisher untergekommen, die sich mit dem Thema beschäftigt hat).
Elie Nagéar hatte es sich im Haus der Barons gemütlich gemacht und im Zuge dessen kommt heraus, dass er Jude ist. Zuvor war das nicht erwähnt worden. Möglich, dass Zeitgenossen aus dem Kontext der Herkunft des Jünglings geschlossen hätten – ein Mann mit portugiesischen Wurzeln, der in der Türkei aufgewachsen war. Wer weiß … Für mich war es bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar:
»Er ist wütend«, stellte Valesco fest.
» Warum?«
»Weil jemand Neues mehr beachtet wird als er. Ganz abgesehen davon, dass Sie Jude sind und er Juden hasst.«
»Hasse ich denn jemanden?« fragte Madame Baron, die die Messer abtrocknete, die sie von ihrer Tochter gereicht bekam. »Solange man niemandem etwas Böses antut!... Vor dem Krieg hatte ich hier einen Russen und einen Polen.. Zwei Jahre haben sie hier in diesem Haus gewohnt, ohne sich auch nur zu grüßen!... [...]«
Ich finde bemerkenswert, welche Worte Simenon Madame Baron in den Mund legt. Sie prangert in einem Absatz die Dummheit von Menschen an, die sich aufgrund unterschiedlicher Religionen an die Kehle wollen, genauso wie die, die verschiedenen Nationalitäten angehören und deshalb gewalttätig werden.
Kurz darauf formuliert das Madame Baron noch ein wenig ausführlicher aus:
»Wenn ich etwas nicht mag«, sagte Madame Baron, »dann sind das Menschen, die andere verachten.«
Manno, denkt man sich, hätten die Menschen damals schon diesen Simenon gelesen! Das sind wunderbare Gedanken, die von einer tiefen Menschlichkeit sprechen. Der Optimist in mir denkt sich dabei, dass, was immer Simenon für einen antisemitischen Schund in der Jugend geschrieben hat, er in späteren Jahren davon abgekommen ist.
Dieser Wechsel in seinen Ansichten wird ihm nicht aufgezwungen worden sein (der Seitenhieb muss nun doch sein: Auch nicht von der jüdischen Weltelite, die zusammen mit den Kollegen vom Deep State und den Illuminaten unsere Geschicke lenken). Judenfeindlichkeit war damals sehr en vogue gewesen und galt in den besten Kreisen als konsensfähig.
Und während ich das schreibe, kommen mir leichte Zweifel, ob die Verwendung des Wortes »damals« gerechtfertigt ist.
Bei dem folgenden Absatz bin ich mir nicht sicher, ob dies eine bewusste Verallgemeinerung ist, die er Monsieur Baron in den Mund legt, oder ein Rückfall Simenons in Klischees:
»Die Polen sind aber anders als die Türken«, nahm Monsieur Baron den Faden wieder auf. »Man hat immer den Eindruck, sie tun einem einen Gefallen, wenn sie sich mit einem abgeben. Ich mag auch nicht die Art, wie sie die Juden behandeln, sogar die in ihrem eigenen Land. Monsieur Moïse zum Beispiel ist doch genauso Pole wie er.«
Er sah Moïse an, doch der verzog keine Miene.
Wenn man diese Gedanken des Eisenbahners von hinten nach vorn aufarbeitet: Völlig korrekt ist eine Aussage, dass Menschen jüdischen Glaubens, die in Polen geboren wurden und gelebt haben, genauso Polen sind, wie die katholischen Glaubens. Religion hat nichts mit nationaler Identität zu tun. (Ich weiß, es gibt eine Ausnahme: Vatikanstadt.)
Kompliziert wird es immer dann, wenn von »die [Mensch einer gewissen Nationalität]« geredet wird und denen eine Eigenschaft oder ein Verhalten zugesprochen wird. Dieses Über-einen-Kamm-scheren ist schwer problematisch, denn im Grunde wird den Mitgliedern dieser Gruppe jede Individualität abgesprochen.
Ich hatte in Bezug auf die Klischees um die Juden empfohlen, den Test zu machen, das Wort »Protestant« oder »Katholik« einzufügen. Das funktioniert auch mit Nationalitäten. Was würde mich das stören, wenn jemand die obige Behauptung aufstellen würde, und statt »Polen« »Deutschen« einsetzen tät. Ich würde mich in der Beschreibung nicht wiederfinden.