Bildnachweis: Titel der Werke von Macé und Goron - - Bearbeitung: maigret.de
Macé und Goron
Monsieur Vidocq hatte ein fotografisches Gedächtnis. Wen er einmal gesehen hatte, an den erinnerte er sich. Das sollte sich als Fluch für Verbrecher herausstellen, die ab den 1810er-Jahren ihr Handwerk in Paris betreiben wollten. Denn Vidocq war einen der Ihren gewesen und hatte die Seiten gewechselt. Jedoch hatten die wenigsten seiner Mitarbeiter die gleiche Fähigkeit.
Der Mann fand zwei Lösungsansätze: Zum einen versuchte er seine Leute zu trainieren, indem er seinen Agenten Häftlinge vorführen ließ und sie sich die Gesichter einprägen sollte (ein Verfahren, dass man sehr lange Zeit nutzte) und zum anderen legte er eine Verbrecherkartei an, in der auch die Merkmale der Verbrecher notiert wurden.
Diese Kartei wuchs und wuchs und wuchs und als 1879 der junge Alphonse Bertillon seinen Dienst bei der Pariser Polizei als Hilfsschreiber antrat, war man kurz davor, vor diesem System zu kapitulieren. Mitarbeiter waren Stunden damit beschäftigt, in dem Ablagesystem etwas zu finden. Vidocq und seine Kollegen mochten damit noch zurechtgekommen sein, aber die Bevölkerungszahl und damit auch die Anzahl der Verbrecher waren mit der Zeit gewachsen. Bewusster Bertillon, eine eigenwillige Type – auf die aber hier nicht weiter eingegangen werden soll – hatte eine Methodik entwickelt, mit dem man Menschen typisieren sollte und Polizisten in die Lage versetzt werden sollten, schnell herauszubekommen, ob der Häftling im »System« vermerkt war. Ein beliebter Trick der damaligen Zeit war, dass die Gefangenen (und besonders gern die aus der Haft Entflohenen) bei ihrem Wiedereintritt in die Polizeimaschinerie unter anderen Namen auftraten.
Bertillon kam auf die Idee, die Menschen zu vermessen und nach einem System in die Ablage zu bringen, auf dass man sie schnell wiederfinden würde. Sein Problem war, dass er nicht nur wenig einnehmend war. Ihm war auch nicht die Fähigkeit gegeben, Sachverhalte verständlich zu erklären. Das Pamphlet, das er verfasste, um seine Ideen zu beschreiben, verstanden die maßgebenden Leute nicht. Einer dieser Entscheider war Gustave Macé.
Eine Inspiration
Zumindest im August 2021 fand sich die Info, dass die Werke von Macé Simenon inspiriert haben sollten.
In der deutschsprachigen Wikipedia gibt es einen Artikel über den früheren Pariser Polizeichef. Das hat er – amüsanterweise – weder in der französischen noch in der englischen Fassung geschafft. Bemerkenswert ist die Anmerkung, dass die Memoiren Macés eine Inspirationsquelle für Simenons Maigret gewesen seien. Das hatte ich noch nie gelesen und ich habe auch keine Quellen dafür finden können, dass es so gewesen ist. Zumindest einer seiner Biografen hätte diese Tatsache erwähnen können.
Eine prominente Erwähnung Macés gibt es sehr wohl und zwar an der gleichen Stelle, an der der Name Eugène François Vidocqs genannt wird. Zu Beginn des zweiten Kapitels von Maigrets Memoiren heißt es:
Ich möchte aber gleich bemerken, dass sie damit einer alten Tradition der Pariser Polizei gefolgt sind, einer Tradition, der wir unter anderen die Memoiren von Macé und jene des großen Goron verdanken, die beide zu ihrer Zeit die sogenannte Sûreté geleitet haben.
Mit dem »sie« im ersten Satz sind Kollegen aus der Generation Maigrets gemeint, die ebenfalls Memoiren veröffentlicht hatten. Aber wir wissen ja, dass unser Kommissar seine Lebenserinnerungen nur deshalb schrieb, weil er ein paar Behauptungen von Simenon richtig zustellen hatte.
An der Stelle gibt es also eine Erwähnung von Macé. Wer mehr von Macé erfahren möchte, wird in den Maigret-Romanen nicht fündig werden und könnte sich, wenn das brennende Interesse besteht, seine acht Bücher stürzen, die zwischen 1885 und 1904 entstanden sind. Nicht auszuschließen, dass der ehemalige Polizist noch mehr geschrieben hätte, wenn er nicht im Jahr 1904 68-jährig gestorben wäre.
1853 trat Macé in den Polizeidienst ein und arbeitete sich hoch, bis er 1867 Kommissar bei der Pariser Polizei war. Drei Jahre später wurde er, wenn ich es richtig verstehe, in den Ruhestand verabschiedet oder zumindest hatte er das Recht, dieses zu tun – aus heutiger Perspektive würde man sagen, da war der Mann noch ein junger Hüpfer. Keine vier Wochen später war er schon wieder im Dienst und arbeitete sich nach oben, bis er schließlich im Februar 1879 Chef der Sûreté wurde. Im März des gleichen Jahres begann Bertillon bei der Pariser Polizei. Ein erster Bericht des Anfängers wurde ignoriert, ein zweiter im November des gleichen Jahres wurde von dem damaligen Chef der Pariser Polizei – Louis Andrieux – zur Kenntnis genommen und da er nichts an dem Bericht verstand (keine Fachkenntnis, umständliche Ausdrucksweise Bertillons), übergab dieser die Ausführungen an Macé, um die Einschätzung eines Fachmanns zu bekommen.
Während Andrieux Jurist und Politiker war, war Macé ein Praktiker. Er verließ sich auf das, was er konnte: das Erkennen von Zusammenhängen. Nicht von ungefähr war er zum Chef der Sûreté aufgestiegen, er hatte sich einen guten Ruf in Paris durch das Lösen spektakulärer Fälle erarbeitet. Auf solch wissenschaftlich-bürokratische Lösungen wollte sich der Praktiker jedoch nicht einlassen und als Resultat war der Bericht von Macé an Andrieux rundweg ablehnend gewesen.
Der Vater von Bertillon, ein be- und anerkannter Wissenschaftler, wurde über die Ideen seines Sohnes von der Polizeiführung informiert und wurde gebeten, auf ihn in der Hinsicht einzuwirken, dass er solche spinnerten Anwandlungen unterlässt. Er war erbost – schließlich war es sein Meisterstück gewesen, den Junior bei der Polizei unterzubringen. Als sein Sohn ihm das Identifizierungssystem vorstellte, war er aber mehr als angetan und wurde zu einem Fürsprecher. Sein Einfluss konnte er unter Andrieux nicht ausspielen, der hatte sich festgelegt und war von seinem Standpunkt nicht mehr abzubringen.
Es war der Nachfolger, der Bertillon eine Chance gab und als Macé davon erfuhr, war er nicht amüsiert. Sein Kritikpunkt an dem System war: Es mochte zwar angehen, dass das die Methode funktionierte. Das täte es jedoch nur, wenn alle Maße genau aufgenommen würden. Sobald die Verbrecher schlampig vermessen würden, wäre es keine Hilfe mehr.
Dieser Einwand, so korrekt er war, griff in Paris nicht. Zum einen bestand Bertillon die Probezeit seines Systems, sodass er weitermachen konnte. Zum anderen war der Erfinder auch ein Pedant und triezte seine Leute, genau zu arbeiten. Keiner wollte den bösen Blick des Chefs ernten. Das System wurde später auch in anderen Polizeibehörden eingeführt und dort offenbarten sich die Schwächen, die Macé angehört hatte.
Macé blieb ein Gegner. Das war aber, zumindest als Polizeibeamter, nicht mehr sehr lang. 1884 reichte er seinen Rücktritt ein, nachdem man ihm eine Aufstockung des Budgets für seine Sûreté verweigert hatte. Gern hätte er ein Telefon für seine Abteilung gehabt, was zeigt, dass er nicht jeder wissenschaftlichen und technischen Neuerung gegenüber abgeneigt war.
Die folgenden Jahre verbrachte er damit, Bücher zu schreiben – im Mittelpunkt stand, was für eine Überraschung, die Kriminalistik.
Der Romancier
Marie-François Goron
Credits: Public Domain
Maigret nennt in seinen Memoiren einen dritten Mann: Marie-François Goron. Auch dieser Polizist betätigte sich literarisch, nachdem er den Dienst quittiert hatte. Im Unterschied zu Macé, der schon mit achtzehn Jahren bei der Pariser Polizei anheuerte, kam der Eintritt Gorons in den Polizeidienst sehr viel später. Er war 34 Jahre alt, als er zur Pariser Präfektur kam. Fünf Jahre später war er schon Chef der Sûreté – wenn das nicht mal eine Karriere ist! Macé mochte das vielleicht kritisch gesehen haben, denn sehr viel praktische Erfahrung in Sachen Ermittlungsarbeit konnte Goron in den paar Jahren nicht gesammelt haben.
Was ihn mit seinem Vorgänger verband, war die Leidenschaft, Verbrecher zu jagen. Er setzte dabei auf Spitzel und war damit ganz auf der Schiene des Gründers der Sûreté Vidocq, der auch ein Faible dafür hatte. Nun durften es aber keine Verbrecher mehr sein, sondern Goron verschaffte seinen Beamten Legenden und schleuste sie in Gefängnisse und in Verbrechergruppen ein. Seine Erfolge waren unbestritten.
Es mochte daran gelegen haben, dass zu seiner Zeit das System von Bertillon schon ausgebaut war und funktionierte, weshalb er die Leistungen Bertillon anerkannte und die Systematik gegenüber ausländischen Polizeibehörden pries. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er generell gegenüber der Wissenschaft aufgeschlossener war. Einer seiner bekanntesten Fälle war das Verschwinden von Toussaint-Augustin Gouffé, einem Gerichtsvollzieher. Dieses Verbrechen konnte er nur aufklären, indem er sich dessen bediente, was wir heute als forensische Medizin kennen. Damals war die Gerichtsmedizin noch unbekannt. Goron stand anfangs vor dem Problem, dass er keine Leiche hatte. Als er anhand von Zeitungsmeldungen einen passenden Leichnam »fand«, musste er nachweisen, dass es sich um seinen Vermissten handelte.
Intuition und Logik halfen an der Stelle nicht. Der gefundene Mann war fürchterlich entstellt. Hinzu kam, dass es verstümmelte Leichen nicht zuträglich ist, wenn man sie bei Wind und Wetter rumliegen lässt. Das tut ihnen auch nicht gut.
»Le Petit Parisien« berichtet über den Fall Toussaint-Augustin Gouffé
Credits: Public Domain
An das Beweisstück Nummer 1 – den vermeintlichen Leichnam von Gouffée – kam der Pariser Polizist nicht heran. Goron musste seinen Vorgesetzten erst andere Indizien vorweisen (zum Beispiel den Koffer, der zum Transport des Leichnams benutzt wurde). Nachdem ihm das gelungen war, wurde die Erlaubnis erteilt, den Leichnam zu exhumieren und in Paris untersuchen zu lassen. Die Autopsie durch Alexandre Lacassagne stellt einen Meilenstein in der Gerichtsmedizin dar und anhand der gewonnenen Erkenntnisse konnte man zweifelsfrei feststellen, dass es sich bei dem Gefundenen um Gouffée handelte. Ebenso erhielten die Ermittler Aufschlüsse, wie der Mann getötet wurde. Wie es sich für eine anständige Kriminalgeschichte gehört, konnten am Ende die Täter gefasst werden und so wurde aus dem drohenden Desaster für Gordon ein Erfolg.
Nachdem er die Polizei verlassen hatte, gründete er eine private Detektivfirma. Damit stand er wiederum in der Tradition von Vidocq, der dies wohl als erster getan hatte. Vidocqs Unternehmung war schon lange vor der Gründung von Gorons Firma verschwunden. Das Unternehmen von Goron ist noch heute unter seinem Namen in Frankreich tätig.
Ob ihn diese Tätigkeit als Unternehmer nicht ausfüllte, sei einmal dahingestellt. 1897 erschienen vier Bände mit seinen Erinnerungen, in den darauffolgenden Jahren eine ganze Reihe von Kriminalromanen, die erfolgreich waren. Insgesamt sollen es einundzwanzig Bücher gewesen sein, in denen Goron auch Fälle aus seinem Berufsleben verarbeitete. Unter anderem auch den Fall mit dem im Koffer aufgefundenen Gouffée.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kehrte er in den Staatsdienst zurück und arbeitete für einen Geheimdienst (Deuxième Bureau). Hochbetagt starb er im Jahr 1933.
Weiterlesen
Die drei Herren (ich schließe Monsieur Vidocq einfach mal mit ein) haben eine ganze Reihe von Schriften hinterlassen. Wer sch weiter informieren möchte, der kann das bequem tun. Einige Schriften kann man über gallica.bnf.fr als PDF herunterladen und in Ruhe zu Hause lesen – eine sehr interessante Möglichkeit. Alternativ findet man einige Informationen auch in dem Buch »Das Jahrhundert der Detektive« von Jürgen Thorwald, was schon über fünfzig Jahre auf dem Buckel hat und gut als Einstieg in die Geschichte der Kriminalistik dienen kann.