Motive eines Gehetzten


Als der Film vor vielen, vielen Jahren im Rahmen einer Edition der Süddeutschen Zeitung erschien, notierte ich in einem Beitrag hier, dass es schlechte Bewertungen aufgrund der DVD-Qualität gegeben hatte. Gekauft hatte ich mir die DVD nicht, was ich jetzt nachholte, und ich weiß nun, was gemeint war. Schön ist anders.

Ein anderer Aspekt, der aber schon fünfundzwanzig Jahre zuvor bemängelt wurde, war die Titelwahl der deutschen Fassung. So wurde in der Roxy 2/1983 von dem Kritiker geschrieben:

Er erzählt diese sehr frei nach Motiven eines Georges-Simenon-Romans konstruierte Parabel von den zwei Männern, die ausziehen, die Freiheit zu finden in langsamen, ruhigen Bildfolgen, die ohne Hetze und Hektik sind und den deutschen Titel etwas unglücklich erscheinen lassen.

Mit »er« ist der Regisseur Jean-Pierre Melville gemeint, der im Weiteren vom Autoren des Artikels derart gelobt wird:

Denn wie auch in seinen späteren Filmen geht es Melville hier weniger um die Aktionen als um die Zustände: die genaue Schilderung der Landschaft, des Milieus und der wechselseitigen Beziehungen der beiden Charaktere. Melville ist hier schon nicht Richter, sondern Beobachter. Nicht Actionator sondern Straßen-Poet.

Das mit »dem Richter« trifft in dem Fall auch gut auf den Ideengeber zu. Es wird zwar auch dem Kommissar zugeschrieben, aber letztlich war auch Simenon in seinen Romanen nie Richter, nie jemand der gewertet hat, sondern der erzählende Beobachter. 

Jean-Pierre Melville wurde 1917 ein Paris geboren und war der Sohn elsässischer Juden. Im Elsass verbrachte er auch seine Kindheit. Den Namen Melville nahm er im Widerstand an, geboren wurde er als Jean-Pierre Grumbach. Er begann eine kaufmännische Lehre, die er mit Kriegsbeginn unterbrechen musste. Er war im französischen Widerstand und nachdem Krieg zog es ihn in das Filmgeschäft. Der Versuch, Jobs in der Regieassistenz zu bekommen, war erst einmal kein Erfolg vergönnt. 

Seinen erste kleinen Film drehte er im Jahr 1945 – »Vingt-quatre heures de la vie d’un clown«. Die erste größere Produktion folgte zwei Jahre später mit »Le silence de la mer« (»Das Schweigen des Meeres«). Es hört sich noch alles sehr provisorisch an: Gedreht wurde auf ausrangierten Filmmaterial, welches Melville und sein Kompagnon, der Kameramann Henri Deacaë, auf dem Schwarzmarkt organisiert hatten. 

Im französischen Kino galt er als Außenseiter, wofür es mehrere Gründe gibt. Die französische Filmgewerkschaft, die sehr einflussreich war, war blieb außen vor. Denn der Film-Neuling folgte nicht der Meinung der Gewerkschafter, dass man für die Produktion 21 Techniker benötigen würde – ihm reichten zwei Leute (einschließlich sich selbst). Ein weiterer Grund wird gewesen sein, dass er wenig vom Stil des französischen Kinos hielt. Seine Vorbilder sah er im amerikanischen Vorkriegsfilm – auch das war eine Herangehensweise, die in Frankreich nicht sehr geschätzt wurde. Andererseits hatte er über dreißig Angebote aus Hollywood, und keines nahm er an.

Die Vorbehalte änderten nichts daran, dass Melville seinen Weg machte. Die Namen der Hauptdarsteller in seinen Filmen lesen sich wie das Who-is-Who des französischen Star-Kinos: Belmondo, Delon, Signoret, Ventura, Montand. Melville richtete sich in einer ehemaligen Autowerkstatt ein Atelier ein und in diesem lebte er auch mit seiner Frau Florence und seiner Mutter. Und einer ganzen Menge Katzen. Seine Wohnung verließ er nur, so erzählte Volker Schlöndorff – der als Regieassistent Melvilles wirkte – später, um ins Kino zu gehen.

Es waren fünfundzwanzig fruchtbare Jahre, die durch seinen Tod mit 55 Jahren abrupt beendet wurde. Melville gab sehr selten Interviews, in den Werbematerialen zu dem Film »Die Millionen eines Gehetzten« fand sich ein Ausschnitt aus einem Interview:

Was bedeutet das Ausdrucksmittel Film für einen Autor? Ich mache Kino, weil ich den Drang zur permanenten Erforschung der Aktion habe. Der größte Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Filmemacher besteht darin, daß der Filmemacher von Anfang an, a priori, auf das Spektakel, auf die Aktion aus ist. Das muss vielleicht nicht so sein, das gilt nicht für jeden, aber das ist häufig so. Denn wenn ich nicht das Bedürfnis hätte, einen Film mit lebendigen Menschen zu machen, dann würde ich wahrscheinlich ein Buch schreiben. Es passiert mir oft, dass ich damit beginne, ein Drehbuch zuschreiben, als wäre es ein Roman. Aber etwa noch der 30. Seite sage ich mir plötzlich: »Nein! Es wäre besser, wenn es lebendiger, aktiver – wenn es wirklich ein Drehbuch wäre!« und ich beginne von vorne. Mich interessiert nicht nur eine primäre Aktion, sondern eine Aktion, die ein wenig komplizierter, reflektierter – vielleicht sogar ein klein wenig intellektuell ist. Für mich ist das eine Art von Befreiung, denn wie alle Künstler, so versuche ich mich durch das, was ich mache, zu befreien. Und der Film ist in dieser Hinsicht ein ideales Mittel der Befreiung...

Die Welt der Gangster fasziniert Sie.

Der Grund dofür ist, daß ich das französische "Milieu" der Vorkriegszeit sehr, sehr gut gekannt habe. Aber, das müssen Sie mir glauben, ich habe nie, wirklich nie realistische Gangsterfilme gemacht. Denn es gibt nichts Langweiligeres und Idiotischeres als das französische Gangster‐Leben. Deshalb habe ich die Funktion des Gangsters neu erfunden und idealisiert. Ich habe »französisch« gesagt, aber das gleiche gilt für das Gangstertum der ganzen Welt. Gangster sind Dummköpfe. Ich habe eine Gangster-Rasse erfunden, die nirgends ouf der Welt existiert – auch in den USA nicht. Mein Gangster-Typ entspringt nur meiner Fantasie. Er erlaubt es mir, eine Geschichte zu erzählen. Er ist in allem ein Vehikel für ein Abenteuer, für ein – ich wiederhole es – geträumtes Abenteuer. Niemals bin ich dabei auf Realismus aus. Aber ich wiederhole: Das alles spielt sich in meiner Welt ab, in my private world und nicht im Leben, nicht in der Wirklichkeit. Auch das ist, von mir aus gesehen, ein systematischer und absoluter Rückzug aus der Realität – denn im wirklichen Leben ist das natürlich alles nicht so.

Es gibt mittlerweile den Begriff des »Melville-Darstellers«.

Ein »Melville-Darsteller« ist ein Schauspieler, der es akzeptiert, im Film eine Gestalt zu verkörpern, die ich selbst im Leben sein könnte und die ich, wenn ich schreibe und filme, einfach kreieren muss. Wenn ich meine Gestalten charakterisiere, kann ich es nicht verhindern, sie Dinge und Posen ausführen zu lassen, die ich selbst mache. Ich zwinge meine Schauspieler dazu, vor der Kumera das gleiche schweigsame, lakonische Verhalten zu praktizieren, das ich im Leben angenommen habe. Ich bin nicht sehr überschwänglich, ich drücke mich nicht sehr gut mit Worten aus, sondern viel besser durch bestimmte Verhaltensweisen, durch eine bestimmte Art zu leben, durch eine Ethik des Lebens, was übrigens ein Pleonasmus ist. Das alles übertruge ich fast immer auf meine Darsteller und zwar mit Hilfe von Geschichten, die es ihnen gestatten, Verhaltensweisen anzunehmen, die den meinen gleichen.

Der Schauspieler ist für sie Arbeitsmaterial?

Ja. Er ist kein Gegenstand, ober er ist ein Instrument. Die Vereinigung mehrerer solcher Präzisionsinstrumente – wie der Ton, das Bild, das Licht, die Technik generell und die Führung der Schauspieler – das ist Film!

(Ausschnitt aus der Süddeutschen Zeitung 27./28. Februar 1973)

Weitere Filme von Melville:

  • 1950: Die schrecklichen Kinder (Les enfants terribles)
  • 1953: Und keine blieb verschont (Quand tu liras cette lettre)
  • 1955: Drei Uhr nachts (Bob le flambeur)
  • 1959: Zwei Männer in Manhattan (Deux hommes dans Manhattan)
  • 1961: Eva und der Priester (Léon Morin, prêtre)
  • 1962: Der Teufel mit der weißen Weste (Le doulos)
  • 1962: Der Kampf auf der Insel (Le Combat dans l'île) (Darstellung)
  • 1966: Der zweite Atem (Le deuxième souffle)
  • 1967: Der eiskalte Engel (Le samouraï)
  • 1969: Armee im Schatten (L'armée des ombres)
  • 1970: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge)
  • 1972: Der Chef (Un flic)