Bildnachweis: Saint-Quentin - (Lizenz: Public Domain)
Noch mehr Märtyrer
Sie müssen sich das so vorstellen: Simenon schreibt was von Bordeaux. Der Autor dieser Zeilen bleibt gelassen. Kurz darauf wird Toulouse oder Marseille erwähnt. Der Blutdruck bleibt unverändert. Dann passiert etwas Wesentliches oder Interessantes und wo geschah es? In Saint-Schlagmichtot. Nachschlagen, Recherchieren, Verzweiflung.
Das Schlimmste, was einem als Simenon-Werk-Chronist passieren kann, sind Ortschaften mit Namen von Heiligen. Die gibt es, ich berichtete in der Vergangenheit darüber, in Frankreich wie Sand am Meer. Das Geschenk, spezifisch zu sein, macht Simenon eher selten. Nicht, dass er es nicht hätte sein können. Die meisten mit Heiligen-Namen gaben sich auch eine geografische Präzisierung – über, neben, an. Nur Simenon ist das egal und bleibt vage. Also: Raten, Lernen, Wundern – die Reihenfolge ist beliebig.
Nehmen wir die beiden Herren Boussus und Mauvoisin: Die führen ein – zugegebenermaßen – fiktives Gespräch um das Verbrechen, was die geschilderten Verwicklungen auslöste. Dabei wird erwähnt, dass der von Mauvoisin begangene Mord in der Nähe von Saint-Quentin stattgefunden hat und die Leiche in einem Kanal entsorgt wurde. Die Frau von Mauvoisin, Fernande, war an dem Wochenende nach Paris gefahren. Weitere Parameter werden den Leser:innen nicht mit an die Hand gegeben.
Quintinus
In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts wurde ein Mann – schwer zu sagen, ob er noch jung war oder in den besseren Jahren – nach Nordgallien gesendet, um dort den wahren Glauben zu verbreiten. In seinem Gefolge befanden sich zwölf Gefährten. Wer an die Mystik der Zahlen glaubt, wird an der Stelle stocken und erschrocken »13!« ausrufen. Allein das »Heilige« als Namenszusatz sollte deutlich machen, dass es kein gutes Ende mit dem Römer nahm. In Amiens haben sie heute eine schöne Kathedrale, aber damals, als Quintinus dort predigend unterwegs war, waren die Oberen noch nicht so weit. Der Missionar wurde verhaftet, wollte seinem Glauben nicht abschwören und der Präfekt beschloss ihn in Reims vor Gericht zu stellen.
In Augusta Viromanduorum entkam Quintinus – die Erklärung, wie es geschehen sei, beinhaltet das Wort »wundersam« – und begann seinen Glauben lauthals zu verkünden. Nun hatte Präfekt Rictiovarus endgültig genug. Nachdem sie des Predigers habhaft geworden waren, folterten sie ihn und schließlich wurde er enthauptet.
Die Leiche wurde in die Sümpfe geworfen, die die Somme umgeben. Sage und schreibe fünfundfünfzig Jahre später hatte in Rom eine Frau einen Traum. Sie träumte nicht von schönen Dingen, sondern davon, so sich die Überreste von Quintinus auffinden lassen könnten. Eusebie war nicht nur reich, sondern auch blind – so konnte sie eine Reise in die heutigen nordfranzösischen Gebiete antreten. Nach ein paar passenden Gebeten wird die Frau fündig und das jetzt kommt das Beste – natürlich in Kombination mit dem Wort »wundersam«: Der Leib und der Kopf von Quintinus tauchen aus dem Wasser auf. Intakt! Ochsen, die den Leichnam transportierten, entschieden auf einem Hügel in der Nähe von Augusta Viromanduorum, nicht weitergehen zu wollen, und Eusebie interpretierte das als göttlichen Willen, an der Stelle eine Kapelle zu bauen. An dem Platz steht heute die Basilika zu Saint-Quentin.
Kann es noch wundersamer werden? Seit dem 6. Jahrhundert war das Grab des Heiligen ein wichtiger Wallfahrtsort, insbesondere in Nordfrankreich. Trotzdem hatte der Éloi de Noyon, Bischof im 7. Jahrhundert, keine Spur mehr, wo sich das Grab in der Kirche befindet. Er gräbt in seiner Kirche und als er das richtige Grab findet, gibt es eine Lichterscheinung an dem Nachthimmel und ein Geruch von Heiligkeit breitete sich aus, den Éloi als angenehm empfand.
Ich hatte heute genießt, so richtig heftig, dass die Katze gleich Reißaus nahm und vor meinen Augen tanzten kleine Funken. Das hatte ich noch nie, empfand es auch als sehr angenehm – von Erleuchtung und Heiligkeit war jedoch keine Spur zu sehen. Später wurde dem nachgegangen – also der Geschichte mit dem Grab – und dabei wurde festgestellt, dass die Leute im 4. Jahrhundert der Erinnerungskultur nicht trauten und die Stelle des Grabes erst mit einem Holzkreuz und später mit einer Stein-Installation gekennzeichnet hatten. Aber so ist das halt: Der eine bekommt danach einen »Heiligen«-Titel und der andere muss weiterarbeiten.
Zwei Kandidaten
Eine Reihe von Indizien sprechen dafür, dass Simenon mit Saint-Quentin das Saint-Quentin ohne jeden Namenszusatz gemeint hat. Der Ermordete, der Mauvoisin den Zwangsverschickung einbrachte, arbeitete als Bote für eine Drahtzieherei. Das hört sich sehr industriell an und würde zu der damaligen wirtschaftlichen Situation des Ortes passen.
Außerdem wird erwähnt, dass die Leiche des Geld-Transporteurs von den beiden Männern in einem Kanal entsorgt wurde. Natürlich kann es gut sein, dass es ein beliebiger Kanal ist und ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei einem oder mehreren der zahlreichen französischen Saint-Quentins-mit-Namenszusatz auch einen oder mehrere geben wird, in deren Nähe auch ein Kanal zu finden ist. Dem Canal de Saint-Quentin, der die Oise, Somme und Schelde mit einer Länge von 92 Kilometern verbindet, und der an Saint-Quentin entlangführt, kann man einige Bekanntheit bescheinigen.
Auf der anderen Seite ist da eine Bemerkung über den Paris-Aufenthalt von Mauvoisins damaliger Frau. Der Ort ist näher an der belgischen Grenze als an Paris. Mit dem Zug wäre ein Reisender schon eine Weile unterwegs.
In diesem Fall würde sich Saint-Quentin-en-Yvelines anbieten, welches unmittelbarer Umgebung von Paris liegt. Die Gemeinde soll ihren Namen ebenfalls dem Heiligen verdanken oder besser, einer Kapelle, die den Namen des Heiligen trug und in der (ebenfalls) die Überreste des Märtyrers ruhten. Aber wann die Überreste in der Paris-nahen Kirche untergebracht wurden, wird nicht geschrieben. Hätten denn die »echten« Saint-Quentiner ihre Überreste einfach so hergegeben? Ich glaub da nicht dran.
Das K.O.-Kriterium jedoch ist für mich, dass die Gemeinde unter diesem Namen erst 1962 gegründet wurde. Vorher war es eine Ansammlung von Dörfern. Simenon konnte diesen Ort zum Zeitpunkt des Schreibens nicht im Visier gehabt haben. Außerdem gibt es zwar mit der Seine ein sehr attraktives fließendes Gewässer in der Nähe, aber einen größerer Kanal ist auf den Karten nicht auszumachen.