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Plötzlich scharfsichtig
In der beliebten Reihe »Schau an, so etwas gab es auch mal« wird diesmal eine Gerätschaft vorgestellt, deren Nutzen spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert infrage gestellt werden musste – sich aber bis in das 20. Jahrhundert behauptete. Wer heute auf den Trichter käme, mit diesem Accessoire – der Lorgnette – in der Öffentlichkeit aufzutauchen, dürfte modisches Aufsehen erregen wollen.
Würde mir jemand begegnen, der eine Lorgnette verwendet, hätte ich es nicht anders als »dieses Ding« oder »dieses Brillendings« bezeichnen können. Mir wäre klar gewesen, wozu es gut ist, aber ich hätte keine Ahnung gehabt, wie man es benennt. Zu erraten, wie ich zu diesem Thema kam, ist wahrlich nicht schwer.
Lucas war zur Comtesse in der Rue des Pyramides gegangen. Da sie gerade schlief, musste er lange warten. Schließlich empfing sie ihn in einem hauchdünnen Morgenrock. Eine Grande Dame, die Comtesse! Mit Lorgnette. Sie redete Lucas beharrlich mit »Monsieur l’agent« an.
Der deutsche Begriff »Stielbrille« wäre eingängiger gewesen, sofort verständlich. Gerade in Kombination mit dem geschilderten Auftreten der Comtesse klänge es weniger elegant. Das Erscheinen der Dame – egal ob in einem Morgenrock oder nicht – bekommt durch die Verwendung des Begriffs eine gewisse Eleganz und Weltläufigkeit. (Zumindest in der Übersetzung … ich habe keine Ahnung, wie die Franzosen zu dem Begriff stehen.)
Der Begriff »Stielbrille« hat einen Nachteil, der durch die der französischen Sprache entlehnten Wörter raffiniert ausgebügelt wird. Wird von einer Lorgnette gesprochen, ist eine Sehhilfe gemeint, die einen Griff und zwei Gläser besitzt. Einen mit einem Glas versehenen Stiel kann man als Lorgnon bezeichnen.
Mich bewegten zwei Fragen: Hätte ich den Begriff kennen sollen? Warum eine Brille halten, wenn es Bügelbrillen gab – oder wurden diese später erfunden?
Nöööö
Die Verwendung des Begriffes in der deutschen Sprache hatte seine Hochzeit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Napoléon war in den hiesigen Landen einmarschiert und damit kam auch der Begriff in die Mode. Anschließend geht es rapide abwärts, bis es Anfang des 20. Jahrhunderts noch mal einen kleinen Trend nach oben in der Verwendung des Wortes gab.
Nach 1946 wurde der Begriff äußerst selten genutzt – zumindest bezogen auf den untersuchten Korpus der deutschen Sprache, der aus Zeitungen besteht. Im letzten Jahr wurde das Wort demnach dreimal verwendet.
Amüsant ist dabei, dass das haargenau dem Vorkommen des Wortes bei den Maigret-Übersetzungen entspricht. Bei zwei anderen Gelegenheiten hätte mir die Sehhilfe auch schon auffallen können: Sowohl in »Maigret und Pietr der Lette« wie auch »Maigret verliert eine Verehrerin« wurde jeweils eine Lorgnette erwähnt. Im späteren Werk verwendete Simenon dieses Accessoire für seine Charaktere nicht mehr.
Komplizierter verhält es sich mit dem Lorgnon: Die einglasige Variante wurde in den Übersetzungen der Maigret-Geschichten nur einmal erwähnt. In »Man tötet arme Leute nicht« heißt es:
Und indem er sein Lorgnon zurechtrückte, wiederholte er:
»Monsieur Tremblet ist seit sieben Jahren nicht mehr in unseren Diensten.«
Die Frage, die sich an der Stelle für die nun Kundigen stellt: Was rückt er denn zurecht? Wenn ein Lorgnon eine Brille am Stiel ist, dann würde der Mann seine Sehhilfe nur anders halten …
Das wurde noch irritierender, als die Suche auf die französischen Originale ausgeweitet wurde. Da stellte sich heraus, dass Simenon den Begriff »Lorgnon« durchaus häufiger verwendete: Als Beispiel sei die Erzählung »Madame Maigrets Liebhaber« angeführt, in der es heißt:
»D'abord, il se sert d'une canne et tu as toujours aimé les hommes qui marchent avec une canne… Je parie qu'il porte lorgnon...«
Übersetzt wurde das mit:
»Ach ja? Erstens hat er einen Spazierstock, und du hattest immer etwas übrig für Männer mit Spazierstock, und ich wette, er trägt auch einen Zwicker …«
Das Nachschlagen im Wörterbuch ergibt, dass dies die gängige Übersetzung ist. Auf einen möglichen Stiel wird jedoch nicht hingewiesen.
Die Recherche bei den französischen Freunden ergab, dass diese eine etwas andere Nomenklatur haben. Sie unterscheiden zwischen einem »lorgnon monocle« und einem »lorgnon binocle«. Monokel sind bekanntlich die Gläser, die man sich vor das Auge klemmt – was weniger unbequem sein soll, als es klingt; ein Binocle ist eine Brille ohne Bügel, die auf der Nase festgeklemmt worden ist – was zu einem Zwicker passt.
Wenn nun in der Arme-Leute-Geschichte etwas zurechtgerückt wäre, dann könnte das ein Monokel sein oder ein Zwicker. Letzteres erscheint wahrscheinlicher.
Für die Variante, nur ein Glas an einem Stiel anzubringen, haben die Franzosen kein Wort. Aber ehrlich gesagt, war dies eine zweitrangige Frage.
Die Frage, ob ich den Begriff hätte kennen müssen, würde ich mit »nein« beantworten.
Die Bügel-Frage
Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert gab es Brillen, die mit Bügeln ausgestattet waren. Damit wäre die Frage, ob Brillen-Bügel existierten, zügig geklärt.
Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass die Lorgnette ein Irrweg gewesen war. Dem hätten die Damen der damaligen Zeit aber heftig widersprochen, und das nicht nur unter Berücksichtigung modischer Aspekte.
Eine etymologische Betrachtung führt auf die Spur, warum sich im 19. Jahrhundert das Accessoire in der gehobenen Gesellschaft einer gewissen Beliebtheit erfreute. Das Wort »Lorgnette« stammt vom französischen »lorgner«, was so viel wie »verstohlen« oder » von der Seite her blicken« bedeutet.
Nun kann das Heben eines Stiels, gekrönt von zwei Gläsern, nicht unauffällig genannt werden. Der Trick war, dass anfangs die Gläser in Fächer eingearbeitet wurden und auf diese Art konnte die Umgebung tatsächlich observiert werden, ohne aufzufallen.
An einer Stelle der Recherche las ich, dass die Benutzung eines Lorgnettes (und natürlich auch das einglasige Geschwisterchen) heutzutage als exzentrisch angesehen wird.
Dem ist nichts hinzuzufügen.