Bildnachweis: Marché Forville - (c) Anna Kaminova (Lizenz)
Route Napoléon
Einen kleinen Tick über zweihundert Jahre ist es her, dass der frühere Kaiser von Frankreich, Napoleon Bonaparte, an Magenkrebs verschied. Es gilt als erwiesen, dass der kleine Mann auf St. Helena an einer Blutung ausgelöst durch das Karzinom starb. Lange Zeit hielten sich hartnäckig Gerüchte, dass es bei seinem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.
Gewisse Leute meinten, er wäre mit Arsen vergiftet worden. Das ist Quatsch, aber wenn eine unbequeme Person wie Napoleon stirbt, dann kann man davon ausgehen, dass seine Anhänger ins Grübeln kommen.
Womit ich einen schönen Bogen zu Émile Fayolle gespannt hätte, der in der Geschichte etwa 6.700 Kilometer entfernt – in der Nähe von Le Cannet – mit seinem Auto auf die Route Napoléon fuhr und sich in Gedanken mit dem geplanten Mordanschlag an seiner Frau befasste, die er mit Arsen – hier ist's wieder – umzubringen gedachte.
Die Straße
Ein paar Jahre ist es schon her, da sind wir aus Annecy kommend in Richtung Cannes unterwegs gewesen. Wir fanden an der Straße Hinweise, dass es sich um die »Route Napoléon« handeln würde. Interessant, dachte ich mir, da wird wohl irgendwann der gute Napoleon entlangmarschiert sein. Der Mann ist schließlich dafür bekannt, dass er Spaziergänge durch Europa unternahm, um französisches Savoir-vivre zu verbreiten. Erst später dürfte seinem Volk aufgegangen sein, dass dieses Lebensgefühl zum Beispiel bei den Russen, die schon Wodka und Blinis hatten, und bei den Italienern, die mit Pasta und Wein gut versorgt waren, nicht so gut ankam. Gut, die Engländer und die Preußen, die hätten es gebrauchen können – aber auch die wollten legten keinen gesteigerten Wert auf das Leben wie Gott in Frankreich. Auf jeden Fall standen die ganzen Herrschaften mit ihren Heeren vor Paris und drängten darauf, den Kaiser vom Thron zu jagen.
Die Straße wurde jedoch nicht nach einem Aufmarsch aus seinem Heimatland benannt, sondern ist seiner Wiederkehr gewidmet. Er hatte in den 10er-Jahren des 19. Jahrhunderts halb Europa gegen sich aufgebracht und nachdem er den Krieg verloren hatte, entzog ihm 1814 der französischen Senat seine Unterstützung und damit seinen politischen Rückhalt. Er entschloss sich, zugunsten seines Sohnes abzudanken, aber die Alliierten waren nicht zufrieden, weshalb er letztlich bedingungslos verabschiedete.
Mir erscheint es nicht ganz so clever, dass man ihm den Kaisertitel offiziell ließ, denn so lag es nah, dass der Korse sich dachte: »Nun habe ich noch so einen schicken Titel, wo ist nur mein Kaiserreich geblieben?« Die Frage dürfte ihn auf Elba, wohin man ihn geschickt hatte, umgetrieben haben. Napoleon hatte dort sein eigenes Fürstentum, aber seien wir mal ehrlich: Was soll so ein Mann mit einem Kaiser-Titel mit einer kleinen Insel? Genau. Unzufrieden war er aber auch, da er von Frau und Kind getrennt war, die man nicht zu ihm reisen ließ und der Tatsache, dass er nicht mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet war. Gerüchte, dass er gekidnappt werden sollte, machten die Runde und dürften seine Zufriedenheit nicht gefördert haben.
Deshalb entschloss er sich elf Monate nach seiner Abdankung, die Insel zu verlassen, um in Paris nach dem Rechten zu schauen und die Macht zu übernehmen.
Er landete in der Nähe am Golfe-Juan (bei Antibes) und von dort aus ging es mit etwas tausend Mann über Le Cannet und Mouans-Sartoux in Richtung Digne und Gap, um schließlich in Grenoble Einzug zu halten. Es war keine geräuschlose Ankunft gewesen und es gab Versuche, seinen Vormarsch zu behindern. Der Trupp für die Sprengung einer wichtigen Brücke bei Ponthaut kam zu spät. Napoleon und seine Truppen waren flotten Fußes unterwegs und hatten den Übergang schon passiert. So versuchte man ihn vor Laffrey zu stellen.
Die Blockade sollte sich als ernst zu nehmendes Hindernis herausstellen. Statt jedoch die bewaffnete Konfrontation zu suchen, wählte der frisch Eingereiste seine Überzeugungskraft als Waffe und gewann mit diesen und seinem Charisma die Soldaten, die ihn passieren ließen. Ähnlich verlief es in Grenoble und von dort an war der Weg für Napoleon frei.
In Paris wurde er als alter, neuer Kaiser mit für ihn erfreulichem Enthusiasmus begrüßt. Im restlichen Europa war die Begeisterung weniger groß. Obwohl Napoleon aus Paris verlauten ließ, dass er keine groß-französischen Träume hegen würde und sich an die Grenzen von 1792 halten würde, schloss sich eine Koalition zusammen, um den Thron in Paris zu säubern und den ihn genehmeren König Louis XVII. wieder einzusetzen. Was dann folgte, ist allgemein bekannt: Es wurde in die Schlacht gezogen, für den Korsen sah es erst gut aus, bevor er vernichtend geschlagen wurde. Die Rückkehr nach Paris wurde weniger euphorisch begrüßt und er wurde wiederum zum Rücktritt gedrängt.
Diesmal sah es für ihn ganz schlecht aus. Der Mann machte sich noch Hoffnungen, nach Amerika auswandern zu dürfen. Aber die Engländer, in deren Hände er sich zu begeben hatte, hielten nichts von dieser Idee. Sie schickten ihn nach St. Helena. Auf dieser schnuckeligen Insel vor Afrika, ziemlich weit weg, hatten sie den Unruhegeist unter Kontrolle und konnten sicher sein, dass der Mann nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion wieder in Europa auftauchen würde. Der Kaiser-Titel war passé und ein Fürstentum hatte er auch nicht zu regieren.
Jetzt stellt sich nur die Frage, warum dieser Weg von der Mittelmeerküste bis nach Grenoble den Namen Napoleons trägt, warum es zudem Denkmäler für ihn entlang der Route existieren, was von ein wenig mehr als Erinnerung zeugt, für einen Mann, der letztlich auf ganzer Linie scheiterte.
Auf diese Straße bog nun Émile Fayolle:
Wenig später verlief die Straße zwischen zwei Hecken; er kam an einer Villa vorüber, dann an einem kleinen Bauernhof und gelangte schließlich auf die Route Napoléon.
Indizien und Inspiration
Credits: OpenStreetMap
Die Tatsache, dass Émiles Abbiegen auf die Route Napoléon erwähnt wurde, lässt gewisse Rückschlüsse zu. Auf dem nebenstehenden Bild ist anhand der gestrichelten Linie der Teil der Strecke zu sehen, der definitiv zur Route Napoléon gehört. Nach Norden geht es sich in Richtung Grasse und die Strecke führt durch Mouans-Sartoux. Die andere Richtung geht nach Le Cannet.
Somit müsste die Bastide, von der Simenon schreibt, in dem Bereich liegen, der grün eingekreist ist. Denn schließlich ist davon die Rede, dass die Kirchenglocken zu hören sind – wobei sich Émile nicht sicher war, ob es die Glocken aus Pégomas waren oder die aus Mouans-Sartoux. Außerdem ist wird uns in der Beschreibung zur Kenntnis gebracht, dass man das Mittelmeer sehen könne.
Eine Bastide ist nicht direkt zu finden, aber wenn man die Karte in Richtung Grasse betrachtet, entdeckt man, dass es eine Gegend gibt, die »Les Bastides« heißt (hier rot umrandet). Von dort aus scheint es mir aber unmöglich, einen Blick auf den Hafen von La Napoule zu erhaschen. Außerdem dürfte es schwierig sein, die Kirchenglocken von Pégomas zu hören.
Es könnte gut sein, dass Simenon von dem Namen inspiriert worden ist – schließlich lebte er kurz vor der Entstehung des Romanes eine Zeit lang in unmittelbarer Umgebung dieses Schauplatzes. Das ist aber pure Spekulation anhand von einigen Indizien.
Verschwunden
In Rocheville bog er rechts ab, fuhr an der Mauer des Friedhofs und des Krankenhauses entlang, dann die Rue Louis-Blanc hinunter und überquerte die Eisenbahnbrücke.
Bei der Beschreibung gibt es für diejenigen, die gern mit dem Finger auf Karten die Routen nachfahren, die beschrieben werden, eine kleine Schwierigkeit: Auf den ersten Blick ist kein Rocheville zu finden. Wer es auf den zweiten Blick findet, ist schon gut. Leute mit Ortskenntnis sind definitiv im Vorteil. Rocheville ist ein Stadtteil von Le Cannet und Simenon lässt den Insider heraushängen, wenn er es einfach so erwähnt, ohne weitere Erklärungen nachzuschieben. Es gilt als das größte Quartier in der Stadt und hat die meisten Einwohner. Zudem stellt es den wirtschaftliche Mittelpunkt von Le Cannet dar.
Mich hat er noch weiter in die Irre geführt, denn er schreibt:
Er machte diese Fahrt dreimal die Woche, versuchte jedes Mal, seinen Wagen zunächst vor der Metzgerei zu parken und, wenn er dort keinen Platz fand, in der schmalen Rue Tony-Allard, in der Nähe des hellblau angestrichenen Milchladens, wo er Stammkunde war.
Auf dem Forville Markt herrschte lebhaftes Gewimmel.
Ich habe nun nach einem solchen Markt in Rocheville gesucht und nicht gefunden. Da gibt es einen schönen Markt in der Mitte der Stadt und ich konnte mir gut vorstellen, dass Émile dort seine Einkäufe für das Restaurant erledigt. Nur trug dieser den Namen »Marché couvert« und lag am Place Maréchal Foch. Man sieht, dass das nicht stimmig ist.
Schnell wird beim weiteren Lesen klar, dass das hinten und vorne nicht stimmt. Die Annahme, dass Émile in Rocheville einkauft, wird auch dadurch karikiert, dass er im Verlaufe dieses Stadtbesuches zu einem Boot geht – und das ist nicht nur in diesem Stadtteil unmöglich. Die ganze Stadt hat keinen Zugang zum Meer.
Man »fällt« vielmehr von Le Cannet nach Cannes hinein, die beiden Städte gehen ineinander über (was vielleicht damit zusammenhängt, das Le Cannet früher zum größeren Cannes gehörte, bevor es autark wurde) und damit wird es klar: In Cannes gibt es einen Markt, der »Marché Forville« heißt und man hat das Wasser. Alles wird dann klar, denn als alte Simenon-Leser:innen ist uns das folgende Setting vertraut:
Am Strand, gegenüber dem Carlton, dem Majestic, dem Miramar, badeten schon Leute, Frauen saßen unter Sonnenschirmen, einige von einer Kinderschar umgeben, und rieben sich mit Öl ein, bevor sie sich der Sonne aussetzten.
Das gibt uns letztlich Gewissheit, dass Émile sich in der Geschichte in Cannes befindet. Schließlich war das Majestic noch vor Kurzem an dieser Stelle ein Thema. Ganz klar dürfte damit auch sein, dass die Wegbeschreibungen von Simenon nicht eins zu eins für das Nachgehen oder -fahren verwendet werden sollte. Das ist deshalb schon nicht weise, da sich in den Jahren seit der Entstehung des Romanes einiges in der Infrastruktur getan hat.
Durch Le Cannet läuft zum Beispiel die Autobahn A8, die den beschreibenden Namen »La Provençale« trägt, aber in der Umgebung einiges an Flair gekostet haben dürfte. Auch hat die alte Route Napoléon durch diverse Umbauten und Umgehungsstraßen an Wichtigkeit verloren.
Ein Punkt, der mir zu der Übersetzung noch einfällt: Wenn denn schon von der »Rue Louis-Blanc« die Rede ist und nicht von der »Louis-Blanc-Straße«, warum hat man dann nicht auch »Marché Forville« gewählt und stattdessen die eingedeutschte Fassung »Forville Markt«? Zumal diese Fassung, meiner Meinung nach, ein Bindestrich gut zu Gesicht gestanden hätte.