Bildnachweis: Unterschrift - - Bearbeitung: maigret.de
Seite 202
Man könnte den Eindruck bekommen, ich bin auf Seite 191 hängen geblieben. Aber dem ist nicht so. Die Seiten, die da kommen, sind sehr spannend – ich hatte nur nicht darüber geschrieben. Dann ging es nach Afrika (nicht auf Simenons Spuren), dann kamen die neuen Bücher und schließlich stecke ich nun in Fachbüchern und Prüfungsvorbereitungen. Keine Zeit, in der mir die hormonellen Nöte Simenons nahe gingen.
Wenn ich die Biographie meiner Ex-Frau (die ich allerdings nicht habe), Ex-Geliebten, Ex-Freundin lesen würde und ich müsste feststellen, dass dort nicht nur das romantische Kennenlernen beschrieben wird, sondern auch der erste Sex und das mit zu vielen Details - ein Gang zum Rechtsanwalt wäre wohl unumgänglich, das möchte ich nicht veröffentlicht wissen.
Simenon hatte die Scheu nicht oder wusste, dass sein Geld für die Rechtsanwälte reichen würde. Deshalb nahm er sich die Freiheit und beschrieb, was passiert war bzw. das, was er darüber in Erinnerung hatte. Nach einem langem Spaziergang kamen Denyse und er im Hotel an, in dem sich Simenon eingemietet hatte, und gingen zu Bett. Sie schliefen in einem Bett, aber sie hatte ein Pyjama von ihm an und er musste ihr versprechen, dass er sie nicht anfassen würde. Es passierte in der Nacht nichts, aber am darauffolgenden Morgen, entband sie ihn von seinem Versprechen und damit konnte es losgehen. Auf die Details gehe ich nicht weiter ein.
Ich finde es sehr interessant, dass sich eine solche Beschreibung an keiner Stelle im Buch in der Beziehung zu Tigy findet. Die beiden waren über zwanzig Jahre zusammen und Simenon hat seine Befriedigung ja nicht nur bei anderen gefunden, sondern wird auch Tigy beigewohnt haben. Das steht wohl außer Frage. Bei seinem Gedächtnis, hätte er sich doch gewiss auch an eine interessante Begegnung mit seiner ersten Frau erinnert, die erwähnenswert gewesen wäre.
Es wird wohl ein anderer Aspekt gewesen sein: Mit Tigy hatte er sich mehr oder weniger im Guten getrennt. Es hörte sich für mich immer so an, als ob sie ein kameradschaftliches Verhältnis pflegten. Die Geschichte mit Denyse ging bekanntlich nicht so gut aus und als ich die Stelle in dem Buch las, konnte ich mir gut vorstellen, wie Denyse beim Lesen ein leidenschaftliches: »Le bâtard!« von sich gab, zum Telefon ging (ja, damals waren die ja noch an Strippen befestigt, damit sie nicht wegrennen konnten) und hat ihren Rechtsanwalt angerufen.
Kann das gut gehen?
Wenn man weiß, dass man sich mit einem Schriftsteller trifft, bereitet man sich dann ein wenig vor? Eine rhetorische Frage. Denyse hatte wohl gehört, dass sie es mit einem Schriftsteller zu tun hat. Ihr hätte vom ersten Augenblick an klar sein müssen, dass Simenon nicht gerade in die Kategorie »armer Schlucker« fällt. Trotzdem fragt sie ihn:
»Anscheinend sind sie ein ziemlich bekannter französischer Schriftsteller?«
Die Antwort, die Simenon darauf gab, ist wirklich einmalig:
»Ich habe bis heute erst etwa sechzig Romane geschrieben.«
Mir gefällt das erst wirklich über alle Maßen. Mit der Literatur hatte es Denyse nach Auskunft von Simenon aber nicht besonders. Sie erzählte, dass sie mehr englische Literatur lesen würde denn französische. Aber ihre Kenntnisse in der amerikanischen Literatur waren sehr rudimentär – gerade mal ein Autor fiel ihr ein, als sie von Simenon befragt wurde.
Dafür konnte sie eine aufregende Familiengeschichte vorweisen: Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie, die aber alles verlor. Denyse erzählte Simenon, dass ihr Großvater sich in einem Spielclub ruinierte. Das Vermögen war weg, aber das Leben ging weiter. Aber es gab noch andere interessante Familien-Mitglieder in ihrer Ahnen-Galerie – einer war sogar Premierminister. Simenon saugte das von ihr Erzählte auf und prüfte es später nach. Sie erzählte ihm keine erfundenen Geschichten.
Im Rückblick ist man natürlich immer klüger. Er schreibt in diesem Kapitel, dass Denyse überhaupt nicht sein Typ gewesen sei: Statt blond und mollig war sie dünn und dunkelhaarig. Er liebte es einfach und unkompliziert – nun auf Denyse traf das überhaupt nicht zu. Ob er das in dem Moment schon erkannt hat? Vielleicht ja, vielleicht war zu dem Zeitpunkt »kompliziert« ja aber nicht »kompliziert«, sondern »interessant«.
Ganz gewiss waren es schöne Tage und Nächte. Es ist zu spüren, wie sehr sie es genossen, durch die Restaurants und Clubs der Metropole zu ziehen, die letzten in den Bars zu sein, an Imbiss-Buden noch ein Hot Dog zu ordern und damit durch die Straßen zu ziehen. Wer schon »Drei Zimmer in Manhattan« gelesen hat, wird sich in diesem Kapitel ganz zu Hause fühlen.
Noch haben wir aber als Leser Ungewissheit: Er wollte sie aber auf jeden Fall wiedersehen, während Denyse sich noch nicht festgelegt hatte.
Das Geschäftliche hatte Simenon aber auch immer noch im Blick. Er schloss nach ihrer Abfahrt einen Vertrag mit seinem Verleger, den er für einen der besten in seinem Leben hielt. Diese Einschätzung war nicht liebesgetränkt, diese Einschätzung erfolgte im Rückblick im hohen Alter.