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Seite 41
Es erscheint einem wie ein Widerspruch, dass die Ärmsten der Armen in Hotels absteigen, weil sie sich eine Wohnung nicht leisten können. Das wäre heute ein Ding der Unmöglichkeit. Das Konzept leuchtet aber ein: Kleine, nicht gepflegte Zimmer, die sich als Wohnung nicht eignen, an Bedürftige zu vermieten. Um denen dann das Kochen auf dem Zimmer zu verbieten. Gerade denen, die sich ein warmes Essen außerhalb nicht leisten können.
Dieses Motiv finden wir in den Romanen von Simenon immer wieder, in den Maigrets fast noch mehr als in den Non-Maigrets. Ich war schon in vielen Hotels, auch in Frankreich, habe aber noch nie ein Schild gesehen, auf dem stand, die Essenszubereitung auf dem Zimmer sei verboten. Auch hat mich nie ein Concierge beim Einchecken darauf hingewiesen. Die Zeiten scheinen also vorbei zu sein.
Simenon indes startete in der Pariser Rue des Dames in einem solchen Zimmer seine Karriere. Für Tigy und ihn war das wirklich ein Thema. Das Geld war noch nicht da und man musste zusehen, wo man blieb. Tigy konnte auch nicht kochen, sie machte vorgekochtes Essen warm. Wenn ich es richtig gelesen habe, auf der Heizung. Allerdings hat das Elend bald ein Ende. Ja, wenn man eines feststellen darf: Zwischen Seite 30 und 41 geht es wirklich aufwärts mit den Simenons. Nach nur elf Seiten bin ich mit Simenon vom Elend in den Wohlstand aufgestiegen und schon auf einem Boot unterwegs! Wenn ich mir die langen, kaum auszuhaltenden Elendsschilderungen in Erinnerung rufe, die man bei Simenon durchaus zu lesen bekommt, kann man angesichts der Kürze heilfroh sein. Elend, sage ich immer wieder, macht keinen Spaß!
Boule ist da!
Die Geschichte, die Simenon erzählt, richtet sich an seine Kinder – seine damals noch lebenden Jungen und Marie-Jo. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich so etwas nicht von meinem Vater hören oder aufgeschrieben bekommen möchte:
Da unsere zwei kleinen Fenster keine Vorhänge hatten und wir nur über eine schwache Petroleum-Lampe verfügten, kamen die Tochter der Bauersleute und ihre Freundinnen, einschließlich die, die später als Boule zu einem Teil unser Familie werden sollte, in der sie heute mehr als ich den Mittelpunkt bildete, kamen also die Mädchen nach Anbruch der Nacht, um uns beim Liebesspiel zuzuschauen…
Das ist schon frivol und man kann damit umgehen, wenn es um fremde Menschen geht. Aber will man das über die eigenen Eltern erfahren? Sollte ich eines Tages einen Simenon treffen und die Chance haben, etwas zu fragen – ich wüsste jetzt, was ihn zu fragen habe: Was haben Sie beim Lesen der Erinnerungen ihres Vaters so gedacht?
Simenon berichtet des weiteren, dass Tigy sehr eifersüchtig gewesen sei und drohte, sie würde sich, falls er sie betrügen würde, umbringen. Das hätte er immer im Hinterkopf gehabt. Ich bin mir nicht sicher, ob er mit dieser Bemerkung meint, dass er es dort tief vergraben hat, denn
Während der ersten Jahre haben Boule und ich sie nur halb betrogen, dann zu drei Vierteln, dann zu neun Zehnteln, denn wir lebten zu dritt in zwei Zimmern.
Ich finde es interessant, dass der Abschnitt mit diesem Satz zu Ende geht. Keine weiteren Erklärungen, was Simenon darunter versteht, jemanden »halb« zu betrügen. Wie geht das? In dem man nur daran denkt, den Partner zu betrügen? Wie lässt sich das steigern? Ich habe den Verdacht, dass es um eine quantitative Aussage geht. Heißt, wenn er einmal mit Tigy geschlafen hat, schlief er das nächste Mal mit Boule.
Auch hier ging mir wieder durch den Kopf, dass ich heilfroh bin, dass wenn mein Vater solche Eskapaden ausgelebt haben sollte, er dies schön für sich behalten hat (und hoffentlich noch lange für sich behält!).
Aufgelöst
Vor einigen Tagen hatte ich in dem Beitrag »Suspense« darüber geschrieben, dass die dort veröffentlichten Geschichten in einer Zeitschrift erschienen sind, bevor sie in Buchform veröffentlicht wurden. Ich aber nicht wüsste, wo und dies auch nicht auf maigret.de ausgeführt sei. Was mich verwunderte. Des Rätsels Lösung ist, dass es tief im Bauch eine Datenbank-Tabelle gibt, die ich nach der Umstellung aber nicht mehr auswerte. Da gibt es also noch was zu tun.
Die Geschichten erschienen zuerst in der Zeitschrift »Detective« und sollten ein großer Erfolg für Simenon werden. Simenon schrieb sie als Rätsel und die Leser konnten einen Preis gewinnen, wenn sie den richtigen Täter erraten würden. Oder sollte man besser sagen: ermitteln? Die ersten Geschichten erschienen dann in dem Band »Les treize mystères« und das ist der Band, der dann später in Deutschland als »Man lernt nie aus« bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Simenon setzte diese Rätsel-Geschichten noch fort und es erschienen später zwei weitere Bände, aber die haben es nie nach Deutschland geschafft.
Ich habe bei der Gelegenheit übersprungen, dass Simenon einige Zeit auf der Insel Porquerolles lebte. Dort besaß er ein Haus und er kannte jeden Bewohner einzeln. Gut, es waren damals nur 130, so viel kommen heute mit einer einzigen Schiffsfuhre herrüber, um durch das Dorf zu schlendern, ein paar Fotos zu machen, in dem Souvenir-Shop ein paar Euro zu lassen und dann wieder zu verschwinden. Simenon selbst kam nach dem Krieg nicht wieder zurück nach Porquerolles.
Monsieur erscheint
Lüttich liegt nicht so weit von der deutschen Grenzen entfernt. Ein Steinwurf von Aachen kann man sagen. Ich habe mich immer gefragt, wie es um die Deutsch-Kenntnisse von Simenon bestellt war. Nun weiß ich es: Nicht so gut, nach Simenons Dafürhalten. Gut genug, um sich mit einem deutschen Beamten zu unterhalten oder besser gesagt, ein Verhör zu überstehen. Simenon erzählt, er wäre unter Verdacht geraten, weil seine Telegramme, die er erhielt, immer die Unterschrift »Detective« erhielten. Man konnte nicht ganz ausschließen, dass er ein Spion sein könne. So ganz ernst kann die Sache nicht gewesen sein, man ließ ihm bis zum nächsten Tag Zeit, seine Vorräte aufzufrischen. Hätte man ihn für einen »echten« Spion gehalten, dann hätten die Deutschen andere Seiten aufgezogen.
Schade ist es natürlich schon, denn wenn man den Gedanken weiterspinnt, dann hätten wir vielleicht mehr Geschichten, in denen Deutschland eine Rolle spielt - »Maigret auf Sylt« oder »Maigret contra Labskaus«. Hat nicht sollen sein: So zog es ihn nach Delfzijl, wo es Simenon überkam und er Maigret erfand. Schreibt er und unmittelbar danach gleich darüber, dass er bald aufhören wollte, Maigret zu schreiben.