Simenons Unterschrift

Seite 501


Können Sie sich noch an die ersten Beiträge dieser Rubrik erinnern? Die waren sehr kurz. Irgendwie wurden sie immer länger. Ich finde es interessant, dass aus dem Kapitel, in dem Simenon die Zeit beschreibt, in der er fünfzig Jahre alt wurde und Marie-Jo zur Welt kam, hier auch sehr kurz abgehandelt werden wird. So aufregend es für ihn war, es gibt nicht viel aus dem Kapitel zu berichten.

Für diejenigen, die sich schon immer gefragt haben, welches wohl die Lieblingsfarbe von Simenon gewesen war, hätte ich eine Antwort: gelb. Obwohl, Moment! Bei ihm klang es vage. Er formulierte diesen Aspekt als Frage, als ob er sich nicht ganz sicher wäre, dass das seine Lieblingsfarbe gewesen wäre. Kann schon passieren. Als Kind habe ich geantwortet, meine Lieblingsfarbe wäre Grün. Heute würde ich das nicht mehr unterschreiben. Ein dunkles Blau ziehe ich jeder anderen Farbe vor. (Fast ins Schwarz gehend, was die beste Ehefrau der Welt regelmäßig zur Verzweiflung treibt, da meine Kleidung doch recht eintönig daherkommt. Aber letztlich ist das kein Geheimnis, schließlich waren viele Designs dieser Webseite in den letzten Jahren eher blau-dunkelblau-schwarz-betont gewesen.)

Wir kommen bei der Beantwortung der wichtigen Fragen im Leben Simenons langsam voran. Im vorangegangenen Kapitel konnten wir die Sache mit dem Lieblingsfreund klären, wir finden gewiss bald eine Antwort auf das Rätsel, was der Lütticher für sein Lebtag gern aß.

Zack! Da ...

Die Menschen sind halt verschieden und man sollte versuchen, sie zu nehmen, wie sie sind. Auch wenn sie anstrengend sind. So wie beispielsweise Denyse. Oder hat sie übertrieben? Das muss jeder für sich entscheiden. Simenon urteilt verhältnismäßig zurückhaltend, zumindest dann, wenn man sich gewahr macht, dass er zu dem Zeitpunkt schon eine hässliche Trennung hinter sich hatte.

Aber fangen wir mit den unrealistischen Erwartungen von Simenon an, der die Geburt seiner Tochter gar nicht erwarten konnte. In den Wochen vor der Entbindung hatte es ihm Mühe bereitet, nicht in einen Laden »einzufallen«, in dem es Puppen zu kaufen gab. Gern hätte er diese für Marie-Jo schon im Vorweg besorgt, aber das hätte ja ein böses Omen sein können.

Das Mädel war für Anfang Februar angekündigt. Der werdende Vater wünschte sich, dass seine Tochter zu seinem 50. Geburtstag zur Welt kommen würde und sie den gleichen Geburtstag haben würden. Die Idee ist schon urig, aber wäre sie praktisch. Für die Tochter wäre es wie ein Geburtsdatum an Weihnachten oder Neujahr. Vielleicht nicht ganz so übel, was die Geschenke angeht – aber feiertechnisch wie bei den anderen Terminen ein Albtraum. Sie würde nicht so feiern können, weil der bekannte Vater am gleichen Tag diesen Ehrentag begeht. Und im jugendlichen Alter hätte sie immer das Dilemma gehabt, ob sie einen draufmacht oder zu der »Fete« des Papas fährt. Zumal damit auch die runden Jubiläen zusammenfallen würden. Nein, das wünscht man keinem Kind!

Sie hatte wohl auch (unbewusst) keine Lust darauf und verspätete sich ordentlich.

Als sich Marie-Jo entschieden hatte, die Welt zu betreten, tat sie das mit einem filmreifen Auftritt. Der Arzt, der die Niederkunft begleitete, meinte im Anschluss, das wäre eine der schnellsten Geburten gewesen, die er betreut hatte. Sie flutschte quasi in seine Arme. Eine nette Vorstellung!

Alles war normal und sie war gesund. Simenon meinte, ein Schielen zu entdecken. Entwarnung! Sie war ein mustergültiges amerikanisches Baby mit den passenden Maßen. Und der Papa freute sich über die blonden Haare – sie entsprach ganz seinen Vorstellungen.

... und die Mutter

Beim Betrachten des Babys, die Niederkunft war gerade zwei Stunden her, und das Paar war in einer zärtlichen Stimmung, fragte Denyse, ob sie telefonieren könne. Ja, warum denn nicht? Aber er empfand das als komisch.

Sie wollte mit ihrer Mutter telefonieren und ihr die Neuigkeiten überbringen. Was sie tat und verkündete, sie wäre gar nicht schwach und hätte in die Klinik einen Koffer mit Akten mitgenommen. Das hatte Simenon schon zuvor irritiert, da er der Meinung war, dass nichts anlag, worum sich Denyse als seine Managerin hätte kümmern müssen. Alles war geregelt und ging seinen Gang; andere Sachen klärte er später. Nichts rannte davon.

Denyse wollte arbeiten, Georges hatte Hunger. Der ging nach draußen, gönnte sich drei Hotdogs und zwei Bier. Dann kaufte er die Puppe, die eingangs erwähnt wurde.

Er sagte seinen Jungs Bescheid, dass die Geburt gut gelaufen war. Und versprach ihnen, sie alsbald einander vorzustellen. Zurück in der Klinik stellte er fest, dass seine Frau lange Gespräche über seine Bücher führte. Und wieder fragt er sich: Warum?

Wie feiert man so eine Geburt? Champagner, dachte sich der frischgebackene Papa. Aber Denyse mochte keinen Champagner und außerdem war es nicht gut für die Muttermilch. Aber es gab ja noch die Damen – noch Schwangere – im Nachbarzimmer. Mit denen durfte er anstoßen, zumindest ein halbes Glas.

Acht Tage später ...

… waren sie wieder zu Hause. Marie-Jo, so berichtet es Simenon, war ein ruhiges Mädchen. War sie morgens der Meinung, dass die Stunde für die erste Flasche gekommen wäre, dann meldete sie sich. Für diese Lautmeldung wird der Begriff »unaufdringlich« verwendet. Na ja, so ein Typ war ich nicht. Meine Eltern konnten den Begriff »unaufdringlich« für mich in meiner gesamten Kleinkind-Zeit nicht verwenden. Hat sich aber gebessert, wurde berichtet.

Dieser Baby-Krams war herzallerliebst, aber er gibt wenig her, was man sezieren kann. Wach wurde ich erst, als Simenon notierte, dass auf der »Ranch in Lakeville«, so habe ich es neulich in einem zeitgenössischen Bericht über den Schriftsteller gelesen, ein Intercom existierte. Und da dachte ich mir: Was? So was hatten die damals schon?

Hört sich sehr modern an. Aber dann liest man mal nach und kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Die Entwicklung des Intercom-Systems begann im frühen 20. Jahrhundert. Ein wichtiger Meilenstein war die Erfindung des Haustelefons in den 1890er-Jahren, das als Vorläufer moderner Intercom-Systeme betrachtet werden kann. Die Technik für diese Intercoms setzte auf denen der Telefonie auf, war aber gerade anfangs so gestrickt, dass nur einer sprechen konnte. Der andere musste zu hören. Wenn beide gleichzeitig sprachen, dann gewann der Lautere – die Technik sorgte dafür, dass der Leisere zuzuhören hatte. Also hatte man bedauerlicherweise das Prinzip des menschlichen Miteinanders in den technischen Fortschritt übertragen.

In den 1930er-Jahren entwickelten sich die Intercom-Systeme weiter, angetrieben durch den Bedarf an effizienterer Kommunikation in Bürogebäuden, Fabriken und öffentlichen Einrichtungen. Wie so oft ging es auch um Kosten. In Europa, so ist zu lesen, war Schweden ein Vorreiter. Vielleicht runzelt man kurz mit der Stirn und fragt sich, wie es zu dieser wundersamen Fügung kam: es lag an der schwedischen Post. Diese erhob auch in firmeninternen Telefonnetzen für das Telefonieren Gebühren. Das mochten die Unternehmen nicht. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Intercom-Systeme an Popularität, insbesondere in Schulen, Krankenhäusern und Wohngebäuden. Zu dieser Zeit integrierten viele Systeme erstmals Funktechnologien, die eine drahtlose Kommunikation innerhalb eines bestimmten Bereichs ermöglichten. Die Technik erfreute sich wachsender Beliebtheit aufgrund ihrer Zugänglichkeit und der Fähigkeit, die interne Verständigung erheblich zu vereinfachen. 

Und an der Stelle will ich den Exkurs beenden, denn schaut man sie die Filme aus der Zeit an, sieht man den Chef häufig einen Knopf drücken und jemand wurde heran zitiert, meist die Sekretärin. Ein Intercom.

Ein bisschen genauer nachgedacht und schon konnte ich die Frage ad acta legen. Natürlich hatten die Simenons eine Art Babyfon auf Basis von Intercom-Technik in ihrem Haus. Waren ja keine armen Leute …

Simenon verlor ein paar Worte über seinen Freund Jean: Der hatte gerade einen Film abgedreht (»The river«) und auch geschnitten. Im Unterschied zu anderen – betont Simenon – schnitt Renoir seine Werke immer selbst. Und er erwähnt auch, dass sein Freund in Frankreich keine Probleme mehr wegen der Bigamie-Angelegenheit hatte. In der Schilderung ging es eigentlich um die Taufe von Johnny, die von Renoir und seiner Frau besucht worden war.

Renoir hatte auch mit der Zeremonie keine Probleme mehr. Hätte er nach den Worten Simenons früher sehr wohl gehabt, denn da war er Atheist gewesen. Aber mittlerweile hatte er sich zum Christentum bekehren lassen. 

Und Simenon erwähnt auch, dass Marie-Jo getauft werden würde. Der Pate wäre ihr Bruder Marc einerseits. Und Jacqueline Pagnol andererseits.

Betreut wurden die Kinder von zwei Kindermädchen, für die es jeweils noch ein Backup für das Wochenende oder für Urlaub gab. Und damit kommen wir zu einem Thema, das ein paar Worte wert ist …

Permissive Erziehung

Marc hatte drei Brüder als Freunde, die man durchaus als Lausbuben bezeichnen kann. Man erkannte sie wohl schon aus der Ferne, denn sie hatten »karottenrote« Haare. Sie waren also ähnlich gut auszumachen wie ein Feuerwehrauto. Im Dorf waren sie etwas verrufen, aber Simenon hatte als Papa nichts gegen die Wahl der Freunde.

In dem Zuge erwähnt er, dass er seine Kinder gern beobachtete, aber sich selten einmischte. 

Wenn ich auch meine Kinder leidenschaftlich gern beobachtete, so habe ich ihnen doch niemals etwas verboten. Auch niemals gesagt: »Das ist schlecht«, oder »Das ist nicht gestattet«.

Stattdessen beschränkte er sich darauf, seine Kinder zu fragen, ob sie wirklich auf das Getane stolz wären, und sie ihre Taten überdenken zu lassen. Wenn sie das nicht bejahen konnten, sollten sie sich selbst bestrafen. Das klappte manchmal. Dem Geschriebenen ist zu entnehmen, dass das nicht immer der Fall war.

Seinen Erziehungsstil beschrieb Simenon als permissive Erziehung. Eltern und Erzieher entscheiden sich mit der Wahl dieses Stils bewusst dafür, nicht aktiv in die Spiele ihrer Kinder einzugreifen und immer eine gewisse Distanz zu wahren. Mit vernachlässigender Erziehung hat die permissive Erziehung nichts zu tun, denn er lässt den Kindern die Freiheit, jederzeit mit ihren Bezugspersonen zu kommunizieren. Das ist wohl das, was Simenon meinte, wenn er sagt, er würde sie gern beobachten. Damit stand er ja irgendwie bereit. 

Regeln werden nicht aufgestellt und Strafen selten verhängt – wie auch, wenn Regeln nicht existent sind. 

Auf der Haben-Seite dieses Stils steht, dass die Unabhängigkeit der Kinder gefördert wird. Da keine Vorgaben existieren, die die Freiheit der Kleinen einschränken, wird deren Entwicklung durch Erziehende nicht in eine bestimmte Richtung gelenkt. 

Das Wider gegen diesen Erziehungsstil kann man sich leicht ausmalen: Er kollidiert mit der Lebensrealität. In den meisten Situationen hat man sich Regeln zu unterwerfen – das geht in der Schule los und wird in späteren Jahren nicht antiautoritärer. Kinder, die die permissive Erziehung genossen haben, tun sich hier oft schwer.

Die freie Entwicklung führt in vielen Fällen auch dazu, dass Kinder nicht lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das Leben in der Gesellschaft wird später unter Umständen zu einem Problem.

Simenon hat diesen Stil nicht hundertprozentig ausgelebt. Denn offenbar hat er sein Missfallen auf verbale Art ausgedrückt. Ähnlich wie bei einer Tatortabsperrung wurde eine Linie gezogen, und je nachdem in welcher Stimmung das Kind war, hat es die flexible Grenze überdacht oder halt auch nicht.

Dieser Erziehungsstil ist übrigens aus der Mode gekommen.

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Kurz notierte Simenon noch, was ihm alles aus der Feder floss. Als da wären »Maigret hat Angst«, »Die Eisentreppe«, »Schlusslichter«, »Hier irrt Maigret«, »Das ungesühnte Verbrechen« und »Maigret in der Schule«.

Dann neigte sich das Kapitel dem Ende zu.

One more thing … Denyse ließ, als sie in der Klinik nach der Entbindung lag, über die Mutter den Rest der Familie grüßen, auch den Bruder Roger. Seine Unzufriedenheit mit der ersten Schwangerschaft seiner Schwester mit einem verheirateten Mann wurde in einem früheren Beitrag schon geschildert. Simenon verriet damals, dass Roger Tigy einen Brief geschrieben hatte – aber er gab nicht preis, was in diesem stand. An der Stelle können wir es erfahren: Er hatte Tigy angeboten, ihre Interessen im Scheidungsverfahren gegen den Lover seiner Schwester zu vertreten. 

Wer da nicht schmunzeln muss!