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Das Lesen der Memoiren erfordert ein Lexikon in der Nähe: Simenon nennt Namen, die einen Klang haben, über die man trotzdem nichts weiß. Beispielsweise Edith Cavell. Nach ihr war das Krankenhaus in Brüssel benannt, in das Simenon seine Frau zur Niederkunft bringen wollte. Es ist nur ein Absatz, in der er auf die britisch-belgische Krankenschwester eingeht, aber das erzeugte Neugierde.
Edith Cavell wurde von dem Arzt Antoine Depage gefragt, ob sie helfen wolle, ein konfessionell nicht gebundenes Krankenhaus aufzubauen. Sie hatte schon als Gouvernante und Lehrerin eine längere Zeit in Brüssel verbracht, bevor sie sich in England zur Krankenschwester ausbilden ließ. Nach dem Beginn des 1. Weltkriegs baute Cavell ein Netzwerk in Belgien auf, mit dem sie verletzte alliierte Soldaten pflegte und für ihre Flucht suchte. Das Netzwerk wurde entdeckt, sie wurde vor Gericht gestellt und dafür zum Tode verurteilt. Das Urteil wird unterschiedlich bewertet: Manche besagen, dass die Paragraphen, nach denen sie verurteilt wurde, gar nicht für Zivilisten galt. Andere sagen, dass dieses Urteil rechtmäßig gewesen sei, politisch aber sehr ungeschickt gewesen sei. Interessant ist hierbei, dass man nicht sagen kann, dass die ersteren Stimmen ausländische Stimmen seien und letztere die deutsche Meinung darstellen, sondern dass dies sehr gemischt ist.
Gnadengesuche wurden abgelehnt und Edith Cavell wurde hingerichtet. Einen Gefallen hatte sich das Deutsche Reich damit nicht gefallen und die Exekution der Krankenschwester wurde von der britischen Seite für die Kriegspropaganda genutzt. Wer kann es denen verdenken?
Simenon schreibt dazu in dem Absatz:
Von den Soldaten von Wilhelm II. gefoltert, hatte sie nicht ein Wort verraten, keinen einzigen Namen genannt, und man hatte sie erschossen, wobei ihr die Augenbinde verweigert worden war, [...]
In einem Eintrag bei der BBC über Edith Cavel heißt es dazu:
Even the American Journal of Nursing repeated the fictional account of Cavell’s execution in which she refused a blindfold for the execution and then fainted. The German commanding officer then shot her dead with a pistol, according to this account. The story featured on a number of postcards.
So mag Simenon erzählen, woran er sich erinnert, was ihm erzählt worden ist oder was er las. Aber das war geprägt von Berichten aus der Maschinerie der Kriegspropaganda und aus den Verfilmungen der Geschichte. Mit der Wahrheit hat diese Aussage sehr wenig zu tun. Ich habe nach Aussagen über Folter im Vorfeld des Gerichtsverfahrens gesucht, aber davon ist an keiner Stelle die Rede. Also auch hier haben wir es mit Hören-Sagen zu tun.
Das Angebot
Tigy wurde also aus dem Elsaß nach Brüssel verbracht, Simenon hinter dem Steuer und mit an Bord war noch eine Hebamme, denn der Arzt konnte nicht genau sagen, wann das Kind kommen würde. Es könne jederzeit soweit sein, meinte er, also sei eine Hebamme in der Nähe keine schlechte Vorsichtsmaßnahme. Die Schwangere war dafür verantwortlich anhand der Karten Simenon zu navigieren, während der so vorsichtig wie möglich fuhr. Er wollte nicht, dass eine Erschütterung für eine vorzeitige Geburt sorgen würde und eine Geburt im Auto oder am Straßenrand war wohl ein Albtraum für ihn.
Sehr amüsant ist die Schilderung des Grenzübertritts nach Belgien. Auf die Frage, ob etwas zu verzollen sei, antwortete die Hebamme, ja – woraufhin sich eine längere Diskussion mit dem Zollbeamten entspann, der etwas begutachten sollte, was er nicht öffnen dürfe und darüber auch noch eine Bescheinigung ausstellen sollte. Ein gewisses Missfallen war wohl zu verspüren, da das gegen das Naturell eines Zöllners geht. Simenon stellte sich jedoch auf den Standpunkt, dass die sterilen Instrumente nicht anzufassen seien und man andernfalls auf die Niederkunft warten und dafür dann das Zollbüro nutze würde.
Brüssel
Während ich immer noch Zweifel habe, ob ich in Details wissen möchte, wie das Liebesleben meines Vaters ausgesehen hat – insbesondere was Affären während der Ehe mit meiner Mutter –, hätte ich nichts dagegen, wenn ich einen ausführlichen Bericht über meine Geburt aus der Perspektive meines Vaters bekommen würde. Ich finde es eine ganz und gar liebevolle Schilderung dessen, was sich abgespielt hat und wie nervös und völlig »uncool« Simenon gewesen ist, als es um die Geburt seines ersten Kindes ging.
Tigy wurde von der Schwägerin - der Frau ihres Bruders - vereinnahmt, die mit drei Kindern einen gewissen Vorsprung hatte - und die sich, indirekt, auch um Simenon kümmert, in dem sie ihn in einen Laden für Kleinkind-Bedarf schickt. Jeden Tag tauchte er dort auf und er findet immer was. Auch wenn es völlig unnütz war.
Aber er war glücklich und abgelenkt. Er schlief auch bei seiner Tigy, musste aber das Krankenhaus immer um sechs Uhr morgens verlassen und bei der Geburt war er auch nicht dabei. Simenon schreibt, dass es für ihn schlimmer war, nicht bei der Geburt dabei gewesen zu sein, als draußen warten zu müssen.