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Simenon – ein Verlag für sich
Mein Email-Archiv reicht weit zurück, aber so weit dann doch nicht. Deshalb kann ich nicht sagen, wann wir genau dieses Interview mit dem Diogenes-Verleger Daniel Keel führten: Entweder im Sommer 2003 oder im darauffolgenden Jahr, was plausibler ist. Im Vorweg hatte ich ein nettes Gespräch ihm gehabt. Wir vereinbarten, dass wir Fragen sammelten und ihm zusenden sollten.
Für uns war das ein guter Aufmacher für unser Projekt gewesen. Irgendwie stolz und aufgeregt. Ein Teil der Mannschaft setzte sich zusammen und arbeitete die Fragen aus. Das Interview erschien 2004 im »Simenon-Jahrbuch« und ich will es mal wieder ausgraben.
Bei der Vielzahl von guten Schriftstellern ist es schwierig, den einzelnen zu entdecken. Wie entdeckten Sie Simenon?
Mein Autor Federico Fellini hat von Simenon geschwärmt und fragte mich, warum ich den nicht verlegen wolle, ob es ihn auf deutsch schon gäbe. Ich las dann »Als ich alt war« (die Tagebücher Simenons) und war begeistert.
Im Stil unterscheiden sich Maigrets und Non-Maigrets erheblich. Manche Leser schwören auf die Maigrets, andere schätzen allein die manchmal schwerverdaulichen Non-Maigrets. Haben Sie in der Hinsicht eine Präferenz?
Es gibt sehr gute Maigrets, die in der literarischen Qualität den guten Non-Maigrets in keiner Weise nachstehen.
Spielen Ihre persönlichen Vorlieben bei der Ausgabe der Simenon-Edition eine Rolle? Fällen Sie die Entscheidungen allein oder wer im Verlag nimmt an der Entscheidung teil?
Ja, aber unsere Simenon-Lektorin Anna von Planta kennt sich bei diesem Autor noch viel besser aus als ich und bestimmt darum wesentlich mit.
Wie kam der Kontakt zu Simenon zustande?
Wie schon erwähnt, hat Fellini, der alle Romane von Simenon gelesen hatte, mich als Erster auf Simenon aufmerksam gemacht. Beim ersten Besuch in Epalinges hat mich meine Schwägerin Christine Gaitzsch, die mit der Simenon-Familie bekannt war, begleitet, weil ich mich vor der ersten Begegnung mit dem »monstre
sacré« fürchtete.
Simenon war mit seinem damaligen Herausgeber in Deutschland nicht zufrieden. Weshalb? Können Sie uns erzählen, wie Sie ihn überzeugt haben, sein Werk über Diogenes herauszugeben?
Weil sie teilweise nicht so gut übersetzt und vor allem häufig gekürzt waren. Ihn zu überzeugen war nicht mehr nötig, da seine Verträge mit den anderen Verlagen ausgelaufen waren.
Es ist schwierig, sich ein Bild von Simenon zur damaligen Zeit zu machen. Welchen Eindruck machte er auf Sie?
Den einer freundlichen, aber Autorität ausstrahlenden starken Persönlichkeit.
Wann und in welcher Umgebung lernten Sie Simenon kennen: in der prächtigen, schlossähnlichen Villa oder später in Lausanne im Hochhaus?
In seiner riesigen Villa in Épalinges traf ich ihn zum ersten Mal. Das war 1971. Er ließ mir einen riesigen Whisky servieren und komplimentierte mich in eine Ecke des riesigen Salons, während er mit einem Glas Mineralwasser in der schräg gegenüberliegenden Ecke Platz nahm. Dieses Arrangement verstärkte natürlich meine Scheu. Erst als wir darauf kamen, dass ich Tschechow verlege und diesen als Hausheiligen betrachte, wurde das Gespräch gemütlich.
Sie haben mit Simenon einige Gespräche geführt. Nahm Simenon in diesen Gesprächen die Fäden in die Hand? In Interviews, so berichtete er einmal, würde er gern die Regie übernehmen und das erzählen, was ihm gefällt. Hatten Sie diesen Eindruck in Ihren Gesprächen mit Simenon auch?
Ja.
Welchen Stellenwert hatte der Wechsel von Simenon zu Diogenes zur damaligen Zeit für Ihren Verlag? Welchen Stellenwert hatte dieser für die Simenon-Rezeption im deutschsprachigen Raum?
Es war nicht nur literarisch gesehen eine rasche Erweiterung unseres Programms, es war auch rein technisch für den damals noch eher
kleinen Verlag eine große Herausforderung. Manchmal publizierten wir bis zu 23 Simenons pro Jahr, so das die Lektoren stöhnten, er sei ein Verlag für sich.
Viele Titel – vor allem Non-Maigrets – erschienen zum ersten Mal in deutscher Sprache, darunter auch ganz wichtige. Nicht nur für die Leser, sondern auch für das deutsche Feuilleton gab es bisher unbekannte Titel zu entdecken.
Simenon hatte zum Zeitpunkt seines Wechsels zu Diogenes den Beruf »Schriftsteller« aus seinem Pass tilgen lassen und befasste sich mit seinen autobiographischen Notizen. Inwieweit interessierte ihn die von Ihnen geplante Neuausgabe seines Werkes und griff er in irgendeiner Hinsicht in die Neuedition ein?
Er beobachtete und begutachtete unsere Simenon-Edition sehr genau und kommentierte sie auch. Im März 1977 schrieb er: »Mein lieber Keel, soeben habe ich meine ersten sechs bei Ihnen erschienenen Bücher erhalten. Sie sind perfekt und ihre Aufmachung sowie der Umschlag sind vorzüglich. Ich beglückwünsche Sie.« Allerdings war er nicht nicht immer so zufrieden: »Sie sind nicht nur von meinen zahlreichen Verlegern derjenige, von dem ich am wenigsten Briefe besitze, selbst Ihre Telefonanrufe kommen zumeist nicht aus Ihrem Büro, sondern von den verschiedensten Orten. Was mich dazu veranlasst hat, Ihnen während eines Ihrer seltenen Besuche zu sagen, dass Sie eher ›un dilettante‹ als ein Verleger sind«, beschwerte sich Simenon im Februar 1982.
Hatte Simenon bestimmte Vorstellungen, was die Herausgabe seines Werkes anging? Können Sie uns Aspekte der Zusammenarbeit mit Simenon schildern?
Er hat uns vertraglich verpflichtet, seine Werke in vielleicht allzu schneller Folge herauszubringen, womit in den ersten Jahren Buchhandel, Presse und Publikum doch etwas überfordert waren.
Waren Sie von Anfang an entschlossen, das gesamte Werk Simenons neu übersetzen zu lassen? Wurde die Qualität der Übersetzungen von Simenon ebenfalls bemängelt?
Wo es nötig zu sein schien: ja. Alle anderen wurden gründlich revidiert und ergänzt. Zu deren Qualität hat er sich nicht geäußert, da er erstens seine frühen Werke gern vergessen hat und zweitens wahrscheinlich der deutschen Sprache zu wenig mächtig war, um das zu beurteilen.
Sie bringen heutzutage jeden Roman als eigenes Buch heraus. Warum haben Sie sich für diese Form entschieden und nicht zum Beispiel dafür, mehrere Romane und Erzählungen in einem Band unterzubringen, wie es Omnibus in Frankreich praktiziert?
Omnibus-Ausgaben haben In Frankreich eine ganz andere Tradition als bei uns. Wir haben allerdings diverse Sonderbände und Sonderausgaben – gebunden oder im Taschenbuch – gebracht, so zum Beispiel »Drei große
Romane« (Der Mörder; Drei Zimmer in Manhattan; Der große Bob) und »Drei große Romane mit Kommissar Maigret« (Maigret amüsiert sich; Mein Freund Maigret; Maigret und die junge Tote) oder »Weihnachten mit Maigret« oder einen Sammelband mit den besten Maigret-Geschichten, einen anderen mit den besten Non-
Maigret-Erzählungen.
Etwas verwirrend ist die Erscheinungsform der Maigret- und Non-Maigret-Geschichten, die in keinem Zusammenhang mit der Zusammenstellung der Erzählungen in den Originalausgaben steht. Manche Geschichten sind dafür zweimal in unterschiedlichen Bänden
erschienen. Haben Sie für diese Vorgehensweise eine Erklärung?
Eine Folge der französischen Omnibus-Tradition von Simenons französischen Verlagen, die oft eine übergroße Anzahl Erzählungen in einem Band herausbrachten, die wir für unsere Ausgaben mit rund 250 Buchseiten aufteilen mussten.
Im letzten Jahr wurde der 100. Geburtstag von Simenon gefeiert. Waren Sie mit der Presse- und Leserresonanz, die dieses Ereignis mit sich brachte, zufrieden?
Ja. Gleichzeitig auch: Nein, ich bin nie zufrieden und wünsche mir immer noch mehr Resonanz für diesen Jahrhundertschriftsteller.
Hatte der 100. Geburtstag von Simenon und die gleichzeitige Herausgabe einer Jubiläums-Edition eine Auswirkung auf die Verkauf von Simenons?
Ja.
Wir finden das neue Erscheinungsbild der Maigrets, die Atmosphäre sehr gelungen. Was haben Sie sich von dem Wechsel vom Maigret-Kopf mit der Pfeife, der sehr typisch ist, zu den Schwarz-Weiß-Abbildungen versprochen? Gab es Reaktionen den Lesern auf diesen Wechsel oder wirkte sich der »Image«-Wechsel in den Verkaufszahlen aus?
Von den Maigret-Porträts haben uns die berühmte Wirkung der Wiederholung (steter Tropfen höhlt den Stein) versprochen. Wir wollten ein Image prägen, ein Maigret-Image. Nach Jahren der Wiederholung kam eine gewisse Ermüdung im Markt auf und der Ruf nach neuer Gestaltung der Maigret-Romane wurde immer lauter, woraufhin ich mich auf eine Kritik und Empfehlung unseres Autors und Simenon-Freundes Federico Fellini besann, der von Anfang an lieber Umschläge mit atmosphärischen Fotos aus den 30er/40er-Jahren gehabt hätte. Der Image-Wechsel wirkte sich positiv auf die Verkaufszahlen aus.
Welchen Erfolg hat Diogenes mit dem Simenon-Werk? Lässt sich sagen, dass Sie mit dem Autor Geld verdienen?
Das wollen wir hoffen.
Was verkauft sich eigentlich besser: Maigrets oder Non-Maigrets?
Zunächst waren die Maigrets etwas erfolgreicher, aber mit den Jahren hat es sich herumgesprochen, dass viele Non-Maigrets, die bisher unbekannt waren, zur Weltliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezählt werden können. Inzwischen ist das Verhältnis ausgeglichen.
Wieso erschienen im Rahmen der Neuedition manche Romane zweimal innerhalb kurzer Zeit (Beispiel: »Die Wahrheit über Bébé Donge« 1997 und 2003), während man auf andere gute Romane (beispielsweise »Ankunft Allerheiligen«) sehr lange warten muss?
Der Titel, den Sie ansprechen, ist eigentlich eine Ausnahme. Er erschien im Rahmen einer großen Non-Maigret-Aktion »In Frankreich mit Georges Simenon« zum 100. Geburtstag des Autors 2003, als wir klassische Non-Maigrets, die an klassischen französischen Urlaubszielen spielen, zusammen mit einer kommentierten und illustrierten Frankreichkarte herausbrachten.
Wir können nicht permanent den GANZEN Simenon (rund 220 Titel) lieferbar halten. Doch viele Dutzend MUSTs (darunter auch meine persönlichen Favoriten) müssen ständig lieferbar sein und immer wieder neu ins Gespräch gebracht werden.
Sie haben das Werk von Simenon fast komplett herausgebracht? Ist geplant, noch fehlende Romane oder Erzählbände in nächster Zeit herauszubringen (beispielsweise die Geschichten um die Detektivagentur O.)?
In absehbarer Zeit nicht, vielleicht später einmal.
Wir wissen, dass die literarische Qualität der Groschenheftproduktion Simenons kein hohes Niveau hatte. Ist trotzdem geplant, einen Sammelband mit solchen Romanen oder zum Beispiel Vor-Maigrets herauszubringen, wie es in Frankreich erfolgt ist?
In absehbarer Zeit nicht, vielleicht später einmal.
Im französischsprachigen Raum gibt es eine ganze Menge Sekundärliteratur zum Thema Simenon, nicht nur Biografien. Sind in dieser Richtung Veröffentlichungen bei Diogenes zu erwarten?
Da ist schon einiges erschienen: Zum 100. Geburtstag 2003 zuletzt »Das Simenon-Lesebuch« (erweitert, mit tollen neuen Aufsätzen von Elke Schmitter und Franz Schuh) und »Über Simenon«, vorher die Briefwechsel mit André Gide und Federico Fellini, die Biographie von Stanley Eskin, oder eine absolute Trouvaille: ein Essay von Gabriel Garcia Marquez, »Dieselbe Geschichte, nur anders«, in der der weltberühmte kolumbianische Autor sich als lebenslanger Fan Simenons outete, der ein Leben lang nach einer für ihn prägenden Simenon-Geschichte fahndete, »Der Mann auf der Straße« und sie schließlich auch fand; der schmale Band erschien als Buchhändlerausgabe. Und natürlich viele seiner autobiographischen Schriften wie »Als ich alt war«, »Intime Memoiren«, »Der Roman vom Menschen«, »Brief an meine Mutter« …
Sie haben sich in den siebziger Jahren bewusst dafür entschieden, von den Diktaten nur einen Band herauszugeben (»Ein Mensch wie jeder andere«). Was hat Sie damals zu dieser Entscheidung gebracht und ist ein Zeitpunkt denkbar, an dem Sie diese Entscheidung revidieren?
Zunächst waren wir alle als Simenon überrascht, mit 69 Jahren öffentlich bekanntgab, er höre auf zu schreiben (und die Berufsbezeichnung Schriftsteller aus dem Pass tilgen ließ), und dann zwar tatsächlich nicht weiter schrieb, aber Band um Band diktierte. Wir haben eine Weile versucht mitzuhalten, bis wir bemerkten, dass einerseits immer wieder Wiederholungen entdeckt wurden und andererseits der Markt zu diesem Zeitpunkt etwas übersättigt war.
Wie sieht der weitere Simenon-Editionsplan aus?
Im nächsten Programm werden, an den großen Erfolg der Maigrer und Non-Maigret-Aktionen aus dem Jubiläumsjahr 2003 anknüpfen. Unter dem Thema »Maigret macht Ferien« erscheinen im Juli in der Simenon-Neuedition sechs klassische Romane um den legendären Kommissar, die alle an französische
Ferienorten spielen: in der Loire-Gegend (»Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet«), an der Côte d'Azur (»Mein Freund Maigret«), der Normandie (»Maigret macht Ferien«, »Maigret regt sich auf«, »Maigret und der geheimnisvolle
Kapitän«) und natürlich auch zu Hause in Paris, wohin der Kommissar immer wieder aus dem Urlaub zurückberufen wird (»Maigret und der Spitzel«), weiterhin mit Schwarzweißfotos von Doisneau bis Boubat.
Außerdem erscheinen im August einige neue Lieblings-Non-Maigret von mir: »Der Mann aus London«, »Striptease«, »Tropenkoller« sowie »Der kleine Heilige« – ein ganz anderer, sanfter Simenon.
Können Sie uns Ihre Lieblings-Simenons nennen?
»Der große Bob«
»Die Wahrheit über Bébé Donge«
»Bellas Tod«
»Drei Zimmer in Manhattan«
»Der Mann, der den Zügen nachsah«
»Hier irrt Maigret«
»Maigret und die alte Dame«
»Maigret zögert«
um nur einige meiner absoluten Lieblinge zu nennen.
Die Fragen stellten damals Dr. Thomas Krubeck, Andreas Schmitz und meine Wenigkeit.