Tadellos

Tadellos


Franzosen könnten aus einem Telefonbuch vorlesen, meinte meine bessere Hälfte bei verschiedenen Gelegenheiten, es würde trotzdem sexy klingen. Lässt man das wenig poetische »Merde« außen vor, so hört sich jedes französische Wort toll an. Ein »Non« klingt nicht so hart wie ein deutsches »Nein« und ein »Oui« besser als das Pendant bei uns, bei dem man auch ein »jawohl« davor setzen könnte.

Wenn ich der Sprache nicht so mächtig bin, wie es wünschenswert wäre, und der Lesung eines Telefonbuches fernbleiben würde – auch wenn diese von einer Französin dargeboten werden würde –, was meine Frau damit meint, verstehe ich durchaus. Ein wohlplatziertes französisches Wort kann die Stimmung heben oder der Situation den Anschein von Hochkultur geben. 

An anderer Stelle wirkt es aber aufgesetzt. Lese ich einen Maigret, sollte ich nicht gezwungen sein, Adjektive nachzuschlagen.

Dass ausgerechnet ich das von mir gebe, der offenbar allem nachspürt und Kleinigkeiten recherchiert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Das ist mir klar. 

Aber bei genauerer Betrachtung bin ich eher Personen auf der Spur, die vergessen wurden – entweder, weil ihre Beiträge zur Gesellschaft an Bedeutung verloren haben oder weil sie wirklich nur zu der Zeit, zu der das Werk entstand, interessant gewesen sind. Wichtig waren und sind sie teilweise für die französische Gesellschaft, der Rest der Welt zuckt mit den Schultern. Oder es sind Dinge, die heute schlicht nicht mehr verwendet werden. Solcher Krams halt.

Kommt Maigret in einem Raum und es heißt:

Soigniert saß er da, die blonden Haare glatt gekämmt.

Wie saß er da? Soigniert? Ist das ein deutsches Wort?

Die Frage kann ich beantworten: Ja, das ist es. 

Die Diagramme stammen aus dem »Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache«. Diese Grafik stellt da, wie häufig ein Wort innerhalb eines deutschen Sprachkorpus verwendet wurde, der auf Basis von deutschen Zeitungsartikeln aufgebaut wurde. Dieser umfasst heute etwa 18 Milliarden Wörter. Auf der linken Seite ist zu sehen, wie häufig das Wort »soigniert« verwendet worden. Rechts – die Auflösung erfolgt sehr bald – der Begriff, welches in der deutschen Übersetzung von Diogenes gewählt wurde. Beide sind auf dem absteigenden Ast – offenbar ist die Eigenschaft heute nicht mehr so wichtig, oder es wurde eine andere Begrifflichkeit dafür gefunden.

Der Duden gibt als Bedeutung an, dass etwas oder jemand gepflegt ist oder eine gewisse Vornehmheit zum Ausdruck bringt. Auf das Erscheinungsbild bezogen, saß Belloir also sehr vornehm dort und/oder machte einen gepflegten Eindruck. Das Erstere bedingt auch das Zweite, umgekehrt ist das nicht unbedingt so.

In dem oben erwähnten Wörterbuch wird darauf verwiesen, dass es im Französischen ebenso »kultiviert« bedeuten kann. Synonyme dafür wären »gesittet« und »gebildet«, was in den Kontext jedoch nicht passt.

Durch den Wissensdurst bin ich ein wenig klüger geworden (und Sie mit mir), aber es stimmt mich nicht friedlicher: Denn zum einen verkehre ich in Kreisen, in denen die Nutzung eines solchen Wortes eine Augenbrauen-Bewegung à la Spock hervorrufen würde (wenn sie denn wahrgenommen würde) und die Wahrscheinlichkeit, dass mir das Wort nochmals über den Weg läuft ist – man sieht es an der linken Kurve – sehr, sehr gering.

Bei Diogenes verwendete man damals »tadellos«. Das ist auch so ein Wort, bei dem ich Lächeln muss, aber es ist sofort klar, was gemeint ist. Es gibt die Korrektheit und vielleicht die Pedanterie wieder, die man von einem Bankangestellten in höherer Position erwartet. Selbst wenn man es nicht häufig verwendet, hat man ein Bild vor Augen.

In den älteren Ausgaben des Titels handhabt man es wie in der Diogenes-Übersetzung: In der Übersetzung der Schlesischen Verlagsanstalt wurde »tadellos« verwendet, bei der von Heyne durch Joachim Nehring ist von »korrekter Kleidung« die Rede.

Un des trois hommes était Belloir, correct, ses cheveux blonds bien lissés; [...]

Amüsant, dass Simenon für Belloir das einfache Wort »correct« verwendet hat. So schlicht, so simpel. Erst im weiteren Verlauf nähern wir uns dem Begriff, der im Deutschen verwendet worden ist:

[...] son voisin, dont la tenue était moins soignée, était un inconnu pour Maigret; [...]

Der Teil wird dann gut verständlich mit »weniger gepflegt« übersetzt und meint den Nachbarn von Belloir, den Maigret zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Nur eine Vermutung sein: Aber vielleicht hat sich bewusst oder unbewusst der Übersetzer von dem »moins soignée« zu einem »soigniert« für Belloir inspirieren lassen.

Jenseits der Erklärungsversuche bin ich immer noch wenig angetan von dem Adjektiv.