Square d’Anvers

Um die Ecke geschaut


Wenn schon, dann richtig: Madame Maigret hatte nicht ein Problem, sondern gleich drei – sie hatte einen Termin, denn sie verpasste; ein Hühnchen, das auf dem Herd köchelte und ein Kind, dessen Mutter verschwunden war und nicht zurückkam. Wobei das Mutter-kommt-nicht-wieder-Problem der Auslöser für die anderen beiden war. Ort des Geschehens: der Square d’Anvers.

Die Geschichte klingt doch sehr vertraut, oder?[MMF]

Der Platz liegt zwischen der Avenue Trudaine und dem Boulevard Marguerite de Rochechouart. Es handelt sich bei diesem kleinen Park nicht um eine quadratische Anlage, was die Erklärung hier leichter macht. In der Längsrichtung schaut man in der einen Richtung über den Boulevard auf die Sacré-Cœur. Und in der anderen auf bürgerliche Häuser. Von der Avenue Trudaine gingen in dem Bereich gegenüber des Square zwei Straßen weg, man konnte also in die Flucht der Rue Turgot schauen oder – ein wenig schwieriger – in die Rue Claude-Rodier. Wo der Zahnarzt saß, kann man einigermaßen genau bestimmen – allerdings nicht exakt. Diese Freude macht uns Simenon nicht:

Seine Praxis befand sich im dritten Stock eines Hauses an der Rue Turgot, Ecke Avenue Trudaine, genau gegenüber dem Square d’Anvers.

Da Madame Maigret immer pünktlich sein wollte, kam sie zu früh zu dem Termin und hatte anfangs jedes Mal im Wartezimmer Platz genommen und auf ihren unangenehmen Termin gewartet. Später hatte sie sich im Park gegenüber auf eine Bank gesetzt und bei der Gelegenheit auch die Mutter mit dem Jungen kennengelernt.

Schön war es dort, Maigrets Frau liebte die Atmosphäre und das Frühlingserwachen.

Es war angenehm, über den grünen Rasen zu blicken und die halb aufgebrochenen Knospen an den Zweigen der Bäume zu betrachten, die über die Mauer des Gymnasiums ragten. Von dem Sonnenplatz auf der Bank aus ließ sich das Treiben auf dem Boulevard Rochechouart verfolgen: die grün-weißen Busse, die wie riesige Tiere wirkten, und die Taxis, die sich geschickt an ihnen vorbeischlängelten.

Wir bekommen eine Handreichung, um uns vorzustellen, wo Madame Maigret in dem Park gesessen hat. 

Sie blickte hin und wieder zu den Fenstern der Zahnarztpraxis hinauf, denn von ihrem Platz aus konnte sie den Kopf des Patienten sehen, der gewöhnlich vor ihr behandelt wurde.

Demnach hatte sie auf einer Bank auf dem Platz hin zur Avenue Trudaine gesessen. Und zwar an der Längsseite, sonst hätte sie nicht den Boulevard im Blick behalten können.

Sie hatte gesehen, wie der Patient, der vor ihr an der Reihe war, das Haus an der Ecke verlassen hatte und in die Rue Rochechouart eingebogen war.

Diese Information wiederum gibt einen weiteren Hinweis. Denn um zur Rue Rochechouart schauen zu können, muss sie mit dem Rücken zum Collège et Lycée Jacques Decour (damals Lycée Rollin) gesessen haben.

Eines lässt sich jetzt schon mal festhalten. Heute wäre das definitiv nicht mehr möglich. Wie auf den Bildern in diesem Beitrag zum Square d’Anvers zu sehen ist, ist der Platz derart bewachsen, dass man von der Schulseite nicht zur gegenüberliegenden Seite blicken könnte. Hinzu kommt, dass die Avenue Trudaine umgebaut wurde. Heute gibt es einen Grünstreifen samt Büschen und kleineren Bäumen in der Mitte, sodass die einzelnen Fahrbahnen voneinander getrennt sind. Früher hatte es einen Allee-artigen Charakter – die Bürgersteige scheinen auf Abbildungen auch breiter zu sein. Die Fläche ist dem Grünstreifen in der Mitte zugeschlagen worden.

Außerdem wird der Park von einem Zaun mit einer Hecke umfasst. Allein das würde heute schon Schwierigkeiten bereiten, einen Passanten beim Abbiegen in die Rue Rochechouart zu beobachten.

Aber wie war es damals?

Square d’Anvers – Blick von der Avenue Trudaine in Richtung Sacré-Cœur
Square d’Anvers – Blick von der Avenue Trudaine in Richtung Sacré-Cœur

Hier ist gut zu sehen, dass der Platz damals schon eine sehr ähnliche Bepflanzung aufwies. Ebenfalls ist ein Zaun zu sehen, der die kleine Anlage umfasst – in Richtung der Kirche ist folgende Reihenfolge zu bemerken: Pavillion, Statue, Obelisk, Statue. 

Betrachtet man die nächste Aufnahme aus dem Jahr 1910, so ist zu sehen, dass es unwahrscheinlich ist, dass man vor dem Park zur Straßenseite noch Bänke platziert haben könnte. Auch im vorherigen Bild gibt es keine Indizien.

Square d’Anvers - um 1910
Square d’Anvers - um 1910

Das war, wenn man damals von der Boulevard-Seite gekommen ist, ein wenig anders gewesen. Es hat den Anschein, dass die Gestaltung in der Richtung ein wenig offener war. Was man sich damit erklären könnte, dass man eine gute Sichtachse zur Sacré-Cœur gewähren konnte. Im Park gab es nicht nur Bänke, sondern auch Stühle, auf denen man sich niederlassen konnte, wie dieses Foto zeigt. 

Im Square d’Anvers
Im Square d’Anvers

Im Unterschied zu heute war der Bewuchs recht niedrig. Madame Maigret konnte, wenn sie im Park gesessen hat, wirklich auf den Boulevard schauen. Wollte man den Blick heute erhaschen, müsste man sich irgendwo drauf stellen – zumindest im hinteren Teil des Parkes.

Was das Abbiegen aus der Avenue Trudaine in die Rue Rochechouart angeht, ergeben sich einige Zweifel. Die Avenue hatte damals schon beidseitig einen recht üppigen Baumbewuchs auf dem Bürgersteig, sodass wir wie unter einer Allee wandeln konnte. Außerdem gab es Geschäfte mit Markisen und das spricht dafür, dass sie Auslagen auf dem Trottoir platziert hatten oder dass vielleicht sogar Tische und Stühle von Bistros dort standen – in Paris ja nicht ganz unüblich.

Avenue Trudaine
Avenue Trudaine

Es müssten geschätzt hundertfünfzig bis zweihundert Meter vom Square d’Anvers bis zu der Straßenkreuzung, an der der Mann abbog, sein. Durch das Gestrüpp und die Bäume durch, dürfte es für Madame Maigret sehr schwierig gewesen sein, den Mann abbiegen zu sehen.

Der Platz wurde 1877 auf dem Gelände der ehemaligen Schlachthöfe von Montmartre eröffnet. Ursprünglich beherbergte er zwei Denkmäler: eine Statue von Diderot aus dem Jahr 1886 und die Colonne de la Paix Armée. Den Park zierte zudem ein Musikpavillon im Stil des im 11. Arrondissement gelegenen Pavillons im Square Maurice-Gardette, der erhalten geblieben ist. Allerdings wurde die Statue des Philosophen während des Vichy-Regimes eingeschmolzen.

Die Säule und der Musikpavillon verschwanden bei einer Neugestaltung des Platzes – unter dem Square entstand in den 1970er-Jahren ein Parkhaus und im Zuge dessen wurden die Elemente entfernt. Diesem Bau fielen auch die großen Platanen zum Opfer. Der Platz wurde dann in den 2000er-Jahren neu gestaltet.

Die hier verwendeten Bilder haben auch ihre Makel – sie sind zum größten Teil nicht datiert. Hier wird frech davon ausgegangen, dass sich in früheren Jahren nicht so viel geändert haben wird. Die Geschichte entstand 1949 und damit nach dem Zweiten Weltkrieg – die Änderungen können gravierend gewesen sein. Die Schlussfolgerung, was die Sichtbarkeit angeht, kann als beeinträchtigt angesehen werden. Dessen bin ich mir bewusst. Aber selbst wenn überhaupt kein Grünzeug im Wege gewesen wäre, wäre es eine Meisterleistung gewesen, das Abbiegen des Mannes zu beobachten.

Wir gönnen uns noch einen kleinen Blick durch den Square d’Anvers in Richtung Avenue Trudaine und somit auf die beiden möglichen Häuser, in denen Madame Maigret ihren Zahnarzt hatte.