Bokeh

Unschärfe


Hin und wieder schafft es der Meister, aufmerksame Leser:innen zu verwirren. Eine Absicht würde ich nicht unterstellen wollen. Aber so fällt eine Unschärfe deutlicher ins Auge und kann konfus machen. Das folgende Beispiel stammt aus »Maigret und der Mann auf der Bank« und – Sie sind gewarnt! – es besteht Spoiler-Gefahr!

Die Ausgangssituation

Die Unschärfe taucht im 6. Kapitel auf, welches mit »Der Bettler« betitelt ist. Monique Thouret durfte, so hatte es Maigret beschlossen, im Warteraum schmoren. Er telefonierte mit Richter Coméliau und wir werden darüber aufgeklärt, was es mit der Tatwaffe, einem Messer, auf sich hat. Der Messer-Hersteller hatte der Kriminalpolizei in einem Brief mitgeteilt, dass die Charge an einen Großhändler in der Nähe von Marseille ging.

Janvier war beauftragt gewesen, herauszufinden, wo man das Messer in Paris hätte kaufen können. Die Herstellerfirma hatte ihm anfangs mitgeteilt, dass es ein Unding wäre, dass herauszufinden. Deshalb machten sich Inspektoren auf den Weg zu möglichen Verkäufern.

Eine Weichenstellung

Die Situation wird wie folgt abgeschlossen:

Also hatten fünf Inspektoren drei Tage lang völlig umsonst die Eisenwarenhändler von Paris befragt. Janvier war wütend.

Vorher wurde kein Inspektor erwähnt, es ging allein um die Arbeit Janviers und seines Tatwaffen-Teams. Mein schlichtes Hirn war davon ausgegangen, dass das Folgende, im nächsten Absatz stehende, auf diesen Inspektor gemünzt ist:

»Und was soll ich jetzt tun, Chef?«
»Sag in Marseille Bescheid! Und dann gehst du mit Moers oder einem anderen aus dem Labor in die Rue d’Angoulême. [...]«

Janvier war der Bearbeiter des Messer-Themas. Daher war es konsequent, dass er das Thema mit den Kollegen in Marseille bespricht. Maigret ab zwei Aufträge in einem Satz, sodass davon auszugehen war, dass sich Janvier anschließend mit Moers auf den Weg zum Zimmer von Louis Thouret machte.

Da saß ich jedoch einem Irrtum auf.

Was passierte nun?

Maigret ließ Monique Thouret in sein Büro kommen, um sie zu verhören. Die Befragung erstreckt sich im Roman über mehrere Seiten und darf als zentrale Szene betrachtet werden. Bisher war die Mademoiselle von Inspektor Santoni beschattet worden. Der Inspektor hatte sie auch zum Quai gebracht.

Zum Abschluss des ausführlichen Gesprächs fragt die junge Frau:

»Lassen Sie mich von einem Ihrer Inspektoren beschatten?«

Maigret war sich nicht sicher, ob das etwas bringen würde. Aber wenn die Dame schon den Vorschlag machte, warum nicht. So lesen wir:

In der Tat wurde Janvier, der frei war, damit beauftragt, ihr zu folgen, obwohl Maigret überzeugt war, dass es zu nichts führen würde.

Jetzt also die Frage der Fragen: Warum war Janvier frei? War er nicht auf dem Weg in die Rue d’Angoulême und sollte er dort nicht mit Moers Fingerabdrücke nehmen?

Offenbar nicht. 

Der dritte Mann

Es gab ein kleines Intermezzo, bei dem sich Maigret mit der gerade Verhörten telefonisch verbinden ließ und ihr weitere Fragen stellte, die ihm im Nachgang in den Sinn gekommen waren. Anschließend wandte sich Lucas an ihn und holte ihn ans Telefon:

Er erkannte die Stimme Lapointes.
»Rufst du aus der Rue d’Angoulême an?«, fragte er verwundert.
»Nicht aus dem Haus. Aus dem Bistro an der Ecke.«

Einen kurzen Augenblick dachte ich, der Kommissar wäre verwirrt, weil er Janvier losgeschickt hatte, um die Fingerabdrücke zu sichern. In dem Fall hätte er sich am Kopf kratzen müssen, da dieser gleichzeitig den Monique-Observationsauftrag bekommen hatte. Das war aber nicht der Grund für die Nachfrage gewesen. Maigret hätte andernfalls die Frage anders formuliert, in einer Art, die Lapointe in den Mittelpunkt gerückt hätte, beispielsweise in solcher Form:

»Du rufst aus der Rue d’Angoulême an?«

Lapointe war aber bis dahin nicht erwähnt worden. Am Vortag waren die beiden zusammen in der Rue d’Angoulême gewesen. Der Kommissar hatte den kleinen Inspektor nach dem Besuch zum Mittagessen geschickt und ihm gesagt, dass sie sich am Nachmittag im Büro sehen würden. Mehr gibt der Text nicht her.

Delegiert

Der normale Büro-Alltag könnte ein der Situation eine Rolle gespielt haben: Janvier hatte doch noch etwas anderes zu tun. Vielleicht musste er noch Besorgungen machen und hatte deshalb die Aufgabe an Lapointe übertragen.

Die Welt der Literatur ist ein wenig anders: Da passiert so etwas auch, aber selbst wenn es dem Chef nicht mitgeteilt wird, so sollten die Leser:innen darüber informiert werden. Eine solche Auftragsübergabe ist im Text nicht zu finden. Weder in der Situation, in der Janvier angeblich wieder frei war, weder als der Anruf von Lapointe kam.

Im Augenblick würde ich davon ausgehen, dass nicht Maigret mit seinen Inspektoren durcheinander gekommen war, sondern Simenon.