Bildnachweis: Vidocq - - Bearbeitung: maigret.de
Vidocq
Die Figur des Vautrin, der in Balzacs »Menschlicher Komödie« auftritt, war dem damals sehr bekannten Eugène François Vidocq nachempfunden. Zeitgenossen des Schriftstellers wie Victor Hugo und Alexandre Dumas taten es Balzac gleich und bedienten sich. Als Vidocq seine ersten Memoiren veröffentlichen wollte, waren sie es, die ihn zur Ausführlichkeit drängten.
Das schmale Bändchen, welches Vidocq geplant hatte, schien ihnen nicht ausführlich genug. Nun schrieb er nicht selbst, sondern engagierte Ghostwriter – das Resultat waren vier Bände und diese wurden Bestseller.
Ich bin mir nicht sicher, ob es als Witz gemeint war, wenn Maigret in seinen Memoiren notiert:
Der legendäre Vidocq hingegen, der Berühmteste von allen, hat uns leider keine Memoiren hinterlassen, die wir mit den Porträts vergleichen könnten, die Romanciers von ihm gezeichnet haben.
Schließlich war besagter Eugène François Vidocq nicht nur der Begründer der modernen Polizei. Er kann auch als Begründer der Tradition von Polizisten-Autobiografien gelten – seine vierbändige Erinnerungen sprechen für sich – und obwohl man ihn nicht als Wissenschaftler betrachtet, so war er gewissermaßen Lehrer, der sein Wissen auch in Form von Büchern weitergab. Schließlich gab es über seine biografischen Notizen hinaus Literatur von ihm.
Ein Extrakt von dem, was in den vier Bänden zu finden ist, wurde erstmals von Ludwig Rubiner übersetzt und 1920 als »Landstreicherleben« veröffentlicht. Rubiner hatte sich schon einige Jahre zuvor mit der Übersetzung befasst, sein Vorwort zu dem Band stammt aus dem Jahr 1913. Die Weltkriegsjahre waren aber scheinbar keine gute Zeit, den Deutschen mit einer Biografie eines Franzosen zu kommen – ganz gleich, wie aufregend dessen Leben gewesen war. Der kurze Blick auf den Lebensweg des Übersetzers zeigt, dass dieser auch ein spannendes Leben geführt hat – wenn auch nicht sehr lang. Nicht ganz vierziger Jahre alt, verstarb er in Berlini an einer Lungenkrankheit. Zuvor lebte der Schriftsteller, Dichter und Übersetzer lange Jahre in Frankreich und berichtete von dort aus über Geschehnisse in Frankreich. 1915 musste der erklärte Kriegsgegner Frankreich verlassen und ging in die Schweiz, wo er unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung schrieb.
Mir liegt eine Ausgabe aus dem Jahr 1971 vor, die im Verlag »Der Morgen« erschien und den etwas umständlichen Titel »Aus dem Leben eines ehemaligen Galeerensklaven, welcher, nach dem er Komödiant, Soldat, Seeoffizier, Räuber, Spieler, Schleichhändler und Kettensträfling war, endlich Chef der Pariser geheimen Polizei unter Napoleon sowohl als unter den Bourbonen bis zum Jahre 1827 wurde« trägt. Ein Übersetzer wird in dem Buch nicht genannt, wobei man davon ausgehen kann, dass es sich nicht um die Übersetzung von Rubiner handelt – die Unterschiede sind zu groß. Die erste Fassung lässt sich übrigens online nachlesen.
Der Umfang der beiden Ausgaben scheint ähnlich zu sein und beide konzentrieren sich auf den Vagabunden-Teil. Dass es auch hier Auslassungen gab, ist in meiner Ausgabe daran zu sehen, dass es hin und wieder Einschübe gibt, in denen Sachverhalte zusammengefasst werden. Wen das Leben des Polizeichefs mehr interessiert als die Erlebnisse des Vagabunden, der wird durch beide Übersetzungen enttäuscht werden. Die Erfahrungen als Ermittler und Polizeichef spielen eine sehr untergeordnete Rolle.
Wunderlich
Als ich die Behauptung las, Vidocq hätte keine Memoiren hinterlassen, habe ich kurz nachgeschlagen und fand sofort die Information, dass es eine Autobiografie von dem Mann gab. Diese wurde flugs bestellt, die ersten drei Seiten überflogen und dann wurde das Buch beiseitegelegt. So etwas passiert. Was ich nicht tat, ich habe nicht weiter recherchiert und das habe ich mir auch verkniffen, bis ich das Buch nun vollständig gelesen hatte.
Ich bin in Arras geboren, und da meine ständigen Verkleidungen, die Beweglichkeit meiner Züge und meine Geschicklichkeit, das Gesicht in Falten zu legen, mein Alter in Ungewissheit setzten, so wird es nicht überflüssig sein, hier zu erklären, dass ich am 23. Juni 1775 zur Welt kam. Es geschah in einem Haus neben dem, in welchem sechzehn Jahre vorher Robespierre geboren worden war. Es war Nacht. Der Regen fiel in Strömen, daher schloss eine Verwandte, die die Geschäfte einer Hebamme und einer Wahrsagerin versah, daß ich ein stürmisches Leben haben würde. Damals gab es noch gute Leute, die an Vorzeichen glaubten; aber wie viele Menschen, die keine Kaffeeschwestern sind, würden sich nicht auch noch heutzutage, wo man aufgeklärt ist, für die Unfehlbarkeit der Demoiselle Lenormand verbürgen.
Das stürmische Leben, was ihm vorhergesagt wurde, hatte Vidocq. Schon früh gerät er auf Abwege. Er zweigt hier und da etwas bei seinen Eltern ab, um sich ein angenehmeres Leben zu finanzieren. Aber es braucht nicht lang, bevor er keine Scham mehr kennt und nicht nur in die Kasse greift, sondern diese in Gänze stiehlt und aus der Stadt verschwindet. Der Titel meiner Ausgabe gibt einen groben Abriss über das Leben von Vidocq, sodass ich das gar nicht schildern muss.
Mir ging es während des Lesens so, dass ich mich fragte: Ist das nicht ein Schelmen-Roman, eine große erfundene Geschichte? Der Mann tappt von einem Missgeschick zum nächsten. So viel Pech kann man doch gar nicht haben. Es ist eine frühe Fassung von »Auf der Flucht«, ohne dass man behaupten könnte, dass Vidocq wie Kimble unschuldig gewesen wäre. In seiner Sturm-und-Drang-Zeit war der Mann kein Unschuldslamm gewesen. Er wurde erwischt und verurteilt, floh, wurde gesucht, wurde gefasst … es scheint fast eine Schleife zu sein.
Unterhaltsam ist das allemal. Als Leser:in muss man sich auf die Sprache einlassen, die sehr altmodisch wirkt und hin und wieder mal zum Wörterbuch greifen, um altbackene Worte nachzuschlagen. Ich dachte mir auch: Warum begibt sich der Mann nicht in eine entlegene Ecke und wagt einen Neuanfang? Überall stieß er auf Gendarmen, die sich für ihn interessierten, oder auf Weggefährten, die ihn auf den falschen Pfad bringen wollten oder verrieten. Das lag vermutlich daran, dass es ihn immer wieder in Städte zog.
Es werden tiefe Einblicke in das Strafsystem der damaligen Zeit vermittelt. Der Titel meiner Ausgabe spielt mit dem Begriff des »Galeerensklaven«. Ohne mich wirklich auszukennen, fragte ich mich, ob man in der Zeit noch Ruderer zum Antrieb eines Schiffes benötigte – aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass dies der Name einer Bestrafung war, bei der man gezwungen wurde, auf Werften zu arbeiten – eine schwere und unangenehme Zwangsarbeit. Es hatte nichts damit zu tun, dass man auf ein Schiff gezwungen wurde, um dieses voran zu bringen. Dagegen ist der Kettensträfling wortwörtlich gemeint – man wurde an eine Kette geschmiedet und durch die Lande getrieben. Die Qualität der Arbeit der Schmiedearbeiten war eher mäßig, denn Vidocq gelang es immer wieder zu entkommen. Eher unangenehm schien mir die Beschreibung, wo Werkzeuge, die die Flucht begünstigen sollte, versteckt wurden.
Der andere Vidocq
Genau genommen hatte man, einmal in dem System gefangen, keine Chance mehr zu entkommen. Es gab Unterbrechungen seiner Schilderungen, in denen er auf die Strafsysteme in anderen Ländern der damaligen Zeit einging und das Für und Wider abwog. So lässt er sich an einer Stelle sehr ausführlich über die Verschiffung von Sträflingen in die Kolonien aus. Offenbar war das in Frankreich zu der Zeit nicht üblich – und er ist auch keiner Anhänger, sondern zeigt die Ungerechtigkeiten auf, die dadurch entstehen.
Im Laufe des Buches kristallisiert sich heraus, dass er Versuche unternimmt, Fuß in einem bürgerlichen Leben zu fassen. Vidocq muss jedoch erkennen, dass die Gesellschaft nicht bereit ist, weitere Chancen zu geben. Wer aus dem Gefängnis kommt, hat damit zu rechnen, dass er alsbald dort wieder landet.
Seine Versuche scheiterten immer wieder. Sich durch Flucht dem Zugriff der Staatsgewalt zu entziehen, gehörte für ihn zum Alltäglichen. Viele seiner Weggefährten traf er in den Gefängnissen wieder, einigen sah er zu, wie sie den Gang zur Guillotine anzutreten hatten.
Der Wendepunkt kommt, als er sich als Spitzel der Pariser Polizei andient. Seine Erfahrungen wie Verbrecher »ticken« helfen ihm, dieser habhaft zu werden. Anfangs wurden seine Methoden belächelt, aber in seinen Memoiren kann er die Fälle anführen, die ihm seinen Erfolg brachten, und er zeigt es abschließend (in dem Band, der mir vorliegt) auch in Zahlen auf.
Heute Vidocq gilt als Gründer der Sûreté, auch wenn sich die Behörde mit ihrem Vater lange Zeit schwer damit tat und es leugnete. Ein Grund dafür dürfte sein, dass nicht nur er aus einem verbrecherischen Milieu entstammte, er rekrutierte seine Agenten anfangs aus selbigen Kreisen und es befanden sich auch Frauen darunter. Sie wurden von ihm nicht in Uniformen gesteckt, sondern ermittelten undercover. Es genügte offenbar, jemand in eine entsprechende Tracht anzuziehen und schon galt man als Kaufmann oder Handwerker. Jedermann ging davon aus, dass man auch der war, als der man sich mit seiner Kleidung ausgab. Auch die Verbrecher.
In seinen Erinnerungen schildert er einen Fall, bei dem er zwei Verbrecher ermittelt, obwohl er nicht viel zur Hand hat. Er unterhält sich mit ihnen, lädt sie zum Essen ein. Es wird nicht ausdrücklich gesagt, aber er behandelt sie wie Menschen – eine Taktik, die auch Maigret gern anwendete –, bewirtet sie und lockert so ihr Mundwerk, dass sie letztlich gestehen. Nachdem sie gestanden haben, überantwortet er sie der Justiz. Er ist sich nicht zu schade, sie weiterhin zu besuchen Hier gibt es weitere Parallelen zu Maigret, denn er begleitet die Herren in ihren letzten Stunden.
Vieles, was später in der Kriminalistik zum Standard wurde, gehörte zu den Taktiken, die er praktizierte. Informationen zu Verbrechern wurden gesammelt, er untersuchte nicht nur Tatorte auf Spuren, die man mit dem Verbrecher in Verbindung bringen konnte, sondern er nutzte auch die Ballistik. Vidocq war ein wahrer Vorreiter und insofern ist das Attribut »legendär«, welches Maigret verwendet, durchaus berechtigt.
Vorbehalte
Die Vorbehalte, die man in der Vergangenheit in der Sûreté gegen den Gründer hegte, dürften auch seiner Persönlichkeit geschuldet sein. Entschuldigte Hans-Joachim Malberg in meiner Ausgabe das Fehlen historischen Hintergrundes in den Erinnerungen Vidocqs noch damit, dass sich die Bücher an das zeitgenössische Publikum gerichtet hätten, denen die Umstände durchaus vertraut gewesen sein dürften, war der Übersetzer der ersten Edition schon wesentlich kritischer. Ludwig Rubiner hält fest:
Er hat keine Ahnung von der Revolution, er weiß nur von sich. Aber die psychischen Zyklone, die über das Land fahren, erfassen den Jungen und lassen ihn wie eine Puppe durch alle Zersetzungserscheinungen der Gesellschaft tanzen.
[...]
Doch Revolution, Konsulat, Kaiserreich, Restauration, Republik – das sieht er alles nicht. Das sieht immer nur sein Leser.
So wird davon ausgegangen, dass Vidocq ganz gewiss nicht die moralische Instanz ist, die man von einem typischen Beamten erwarten darf. Er ist auch nicht der Ausbund an Loyalität – er diente in den verschiedensten Armeen, je nachdem, was gerade passend war; und ihm war es egal, unter welcher Regierung er arbeitete. Zu dem Thema noch abschließend Rubiner:
Zum erstenmal taucht an einer auffallenden Stelle und am einzelnen Fall gezeigt eine Art von Proletarier-Milieutheorie auf, roh, zu Nutzzwecken gröblich und etwas sentimental formuliert, doch sehr deutlich, und drei Generationen vor der exakten Systematisierung dieser Idee. Diese rudimentäre Milieutheorie wird auch sofort ganz, wie bei den späteren Soziologen, an einem Fall von unheilbarem Proletariat angewendet. Doch Vidocq ist kein Gelehrter. Er ist ein leidenschaftlicher, gewalttätiger, unehrlicher Mensch, und so stilisiert er seinen Fall oft nach seiner Ansicht von den Wirkungen einer Elendsumgebung.
Maigrets als Vidocqs
In den verschiedensten Geschichten wurden Vidocq Denkmäler gesetzt, ich hatte es zuvor schon angeführt. In Balzacs Werk bleibt es nicht nur bei der Figur des Vautrin, auch in früheren Romanen sind Züge von Vidocq zu entdecken.
1827 trat er zurück, veröffentlichte seine Lebenserinnerungen – das, wie erwähnt – sehr erfolgreich, wurde Unternehmer – das jedoch nicht erfolgreich – und kehrte noch einmal zur Sûreté zurück, um nach einer Affäre erneut zurückzutreten und gründete dann eine Privatdetektei, die als erstes Unternehmen ihrer Art gilt. Sein Leben war nicht weniger aufregend als in den Jahren zuvor. Sein Reichtum schwand und zweiundachtzigjährig verstarb er im Jahr 1857.
Auch für das Kino wurde seine Geschichte entdeckt. Interessanterweise sollte ein Schauspieler den ersten Vidocq geben, der später einer der ersten Kino-Maigrets werden sollte. Harry Baur spielte 1909 in »La Jeunesse de Vidocq ou Comment on devient policier« den berühmten Polizeigründer – und tat dies + in zwei Fortsetzungen.
Neben Serien-Bearbeitungen gab es auch Rückgriffe auf das Leben von Vidocq im Kino, unter anderem eine Verfilmung mit Gérard Depardieu aus dem Jahr 2001, in der die dargestellte Figur dem realen Vidocq sehr glich, die erzählte Geschichte jedoch nicht. Depardieu dürfte damit der zweite Schauspieler sein, der sowohl den Vidocq wie auch den Maigret gegeben hat.