Bildnachweis: La micheline - Public Domain
Von Eulen und anderen Schienenbussen
Der Bahnhof Potsdam-Stadt war mal Hauptbahnhof und verfiel nach dem Mauerbau in einen Dornröschenschlaf. Fuhr man von dem neueren Hauptbahnhof in Richtung Babelsberg, stieg an dem Haltepunkt kaum jemand aus. Landläufig sprach man von der »Eule«, wenn man die Linie meinte, die zwischen den Bahnhöfen verkehrte. Das alles ist schon Jahre her.
Nach der Wende gewann der Bahnhof an Bedeutung. Die S-Bahn Richtung Berlin wurde wieder in Betrieb genommen. Der alte, kleine, privat wirkende Bahnhof wurde abgerissen und ein hässlicher Klotz hingestellt, über den sich die Stadtoberen noch in die Haare mit der UNESCO bekamen. Aber das scheint eine Spezialität der Führung der Brandenburger Landeshauptstadt sein, wie ich als dort Geborener immer mal wieder staunend lese. Stolz überkommt mich dann selten. An der Stelle des Bahnhofs Potsdam-Stadt steht nun wieder ein Hauptbahnhof, der herausragende regionale Bedeutung hat. Der alte Name wäre in meinen Augen angemessener, hält kein einziger IC oder ICE hier. So »Haupt« ist dieser Bahnhof!
Mit Potsdam hatten sowohl Maigret wie auch Simenon wenig am Hut, mit dem Hauptbahnhof noch weniger. Der Belgier wäre nie auf die Idee gekommen, in seinen Büchern die »Eule« unter diesem Namen zu erwähnten. Aber die »Eule« war ein Schienenbus und ein solcher findet in »Maigret amüsiert sich« Erwähnung.
Sie musste den Schienenbus nehmen, der Cannes um acht Uhr zehn verlässt, [...]
»Sie« war in dem Fall Éveline Jave in »Maigret amüsiert sich«, aber hier geht es nun um den Begriff »Schienenbus«.
Als ich den Begriff las, hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon, was ein Schienenbus ist. Hätte man mich gefragt, hätte ich wenig fachmännisch geantwortet, dass das wohl ein Fahrzeug wie die »Eule« wäre – was bei Eisenbahnliebhabern, die eher mit den technischen Bezeichnungen agieren, ein hysterisches Lachen auslösen würde. Aber für den Schienenbus, den ich kenne – nämlich die Eule –, hatte sich das gemeine Volk eine Reihe von Spitznamen ausgedacht. Niemand war auf die Idee gekommen, den »VT 2.09« als solchen zu bezeichnen, sondern man gab ihm den Vogel-Namen. Ich habe die anderen Begriffe in meiner Kindheit nicht gehört, aber die etwas unförmigen Klötze sollen auch unter den Namen »Sandmännchenzug« und »Ferkeltaxe« in der DDR gelaufen sein.
Der Schienenbus
Aber was macht einen solchen Schienenbus eigentlich aus? Hierzulande versteht man darunter zweiachsige Triebwagen, die von Verbrennungsmotoren angetrieben werden. Verwendet wurden und werden sie auf Nebenstrecken, sie waren für den kostengünstigen Betrieb geradezu ideal.
Ursprünglich hatte sich gerade unterfinanzierte Eisenbahngesellschaften damit beholfen, Busse zu kaufen und diese für den Schienenbetrieb umzurüsten. Stellen wir uns einen typischen Bus vor: Der Fahrer steigt »vorne« ein und fährt mit den Passagieren in eine Richtung. Wenn er dort angekommen ist, hat er dafür zu sorgen, dass das Fahrzeug gewendet wird, damit er wieder zurückfahren kann. Einfach so die Richtung wechseln funktionierte mit diesen Konstruktionen nicht, weshalb man diese schon bald modifizierte und sie mit Vorrichtungen versah, die einen Richtungswechsel ermöglichten.
Einige Hersteller spezialisierten sich darauf, Fahrzeuge herzustellen, die die verhältnismäßig leichte Bauweise von Bussen hatten und gleichzeitig handlich für den Bahnverkehr machten. Uns scheint das heute völlig normal, aber wenn wir uns an die Dampflokomotiven erinnern, dann sieht man, dass man dort das gleiche Problem hatte. Sie mussten irgendwie umgedreht werden, damit sie in die andere Richtung fahren können. Im Nahverkehr stellte das einen enormen Vorteil dar, dass man leichte Fahrzeuge hatte, bei denen die Waggons auch als Triebfahrzeug dienen konnten und beliebig gekoppelt werden konnten. Man kann sich den effektiven Betrieb von S-Bahnen und Metros nicht vorstellen, wenn man sie jedes Mal irgendwie drehen müsste.
Ein kleiner Satz von Simenon, schon ist man wieder in einer ganz interessanten Welt, nicht wahr? Obwohl: War es der Schriftsteller, der mich hineinkatapultierte oder war es in dem Fall der Übersetzer Oliver Ilan Schulz?
Auftritt: La Micheline
In der Diogenes-Übersetzung hieß es noch:
[...] und fuhr mit der ›Micheline‹ [...]
Ich mache mir an der Stelle nicht allzu viele Gedanken darüber, warum Madame Jave das in der Kampa-Übersetzung »musste«, während sie es in der Diogenes-Übersetzung von Renate Nickel einfach tat. Die neue Übersetzung ist nah am französischen Original. Aber da ich weder Linguist noch ein Übersetzer bin, also beileibe kein Fachmann, steht mir hier kein Urteil zu. Geschmeidiger scheint mir die Übersetzung aus dem Hause Diogenes zu sein, denn ich sehe nicht ein hartes »Müssen«. Éveline Jave wollte wegfahren und nahm dafür dieses Fahrzeug.
Interessanter ist jedoch ein anderer Aspekt: Sie fuhr mit einer »Micheline«.
So steht es im Original, also ist Diogenes hier korrekt. Allerdings wird es nicht weiter kommentiert. Vielleicht wussten die Leser:innen im Jahre 1978, in der die Übersetzung von Renate Nickel entstand, worum es sich bei der »Micheline« handelt. Allein ich habe einige Zweifel. Für die neue Übersetzung hätte ich mir den Begriff trotzdem gewünscht, schließlich gibt es maigret.de als Glossar, einfach weil es weniger trocken klingt als »Schienenbus«.
Der Industrielle
Ganze drei Zeilen widmet sich die deutsche Wikipedia dem Industriellen André Michelin. 1889 gründete er zusammen mit seinem Bruder, so steht dort geschrieben, die Firma »Michelin« und stellte fortan Gummireifen für Fahrzeuge her. Die geniale Idee von André war, dass man die Reifen von den Rädern trennen konnte – die Reparatur wurde damit viel einfacher. Drei Jahre später entwickelte die Firma die ersten Luftreifen für Fahrräder, bald darauf gab es das Produkt auch für Autos.
André Micheln – einer der drei Herren wird es sein – fährt ein Rennen auf der Strecke Paris – Amsterdam – Paris
Credits: Public Domain – Autor unbekannt
Bahnbrechend aus marketingtechnischer Sicht war ohne Zweifel seine Idee des »Guide Michelin« und die Faltkarte von Frankreich, die zehn Jahre später – 1910 – herausgebracht wurde. Seinem jüngeren Bruder wird die Édouard Erfindung des »Michelin-Männchens« zugerechnet, welches offiziell »Bibendum« heißt. Fabrikanten, die neben ihren industriellen Errungenschaften solche Ikonen erschaffen haben, lösen Bewunderung aus. Beide Männer waren offenbar Marketing-Naturtalente.
Édouard studierte nach seinem Jura-Studium Malerei, bevor er in das Reifengeschäft einstieg. Und sein Bruder baute vor seiner Gummi- und Reifen-Karriere in Paris unter anderem Gewächshäuser. Die Lebenswege mancher Menschen sind überraschend und wirken manchmal ein wenig eigenartig.
Andererseits: Der Vater der beiden war Künstler und Graveur, die Mutter war die Erbin einer Gummifabrik. Just diese Fabrik übernahmen sie, bevor sie ihre eigene Firma gründeten.
Die Brüder testeten die Produkte selbst in der Praxis unter harten Bedingungen: Sie nahmen mit wechselndem Erfolg an verschiedensten Autorennen teil.
Die Entwicklung
Ende der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts fing André sich an, sich um den Reisekomfort in Eisenbahnen zu kümmern. Seine Idee war, dass man statt der Eisenräder Gummireifen verwenden sollte. Der Begriff »Eisenbahn« ist hier nicht den Stahlrädern geschuldet, sondern dem Schienenstrang, auf dem die Züge fahren – konsequenterweise wäre ein Fahrzeug mit Gummirädern, welches auf einem Schienenstrang entlang rollt, immer noch eine Eisenbahn. 1929 wurde die erste Version patentiert und 1931, dem Jahr in dem vor 90 Jahren der ältere Michelin starb, gab es den ersten Prototypen.
Die Züge waren nicht als Schienen-Straßen-Omnibusse konzipiert. Mit dieser Art von Gefährten wäre man in der Lage gewesen, sowohl auf Schienen wie auf der normalen Straße zu fahren. Das klingt nach einem verrückten Land-Land-Amphibien-Fahrzeug und obwohl es praxistaugliche Vehikel gab (die auch in Deutschland eingesetzt wurden), hat sich diese Technik nicht durchgesetzt.
Um die Praxisfähigkeit zu beweisen, organisierte Marcel Michelin einen Test auf der Strecke zwischen Paris und Deauville. Sein Erfinder erlebte die im September 1931 stattfindende Fahrt, bei der der Zug mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 107 km/h unterwegs war, nicht mehr – diese Rekordfahrt darf aber als Erfolg gewertet werden und in den Jahren darauf entstanden diverse Fahrzeuge auf Basis dieser Technik, die auf den verschiedensten Routen in Frankreich eingesetzt wurden. Beispielsweise wurde eine Strecke zwischen Straßburg und Basel mit der Michelin-Technik betrieben.
Es sieht so aus, als hätte die Technik ihre Hochzeit in den dreißiger, vierziger Jahren gehabt. Mir fiel bei Besuchen in Paris auf, dass die dortige Metro mit Gummireifen gefahren ist und wunderte mich ein wenig: Das hatte ich anderswo nie gesehen. Die Pariser setzen seit 1952 auf Fahrzeuge diesen Typs. Dieses System wird nicht flächendeckend bei der Pariser Metro verwendet, es rund die Hälfte der Linien werden mit Gummireifen-Fahrzeugen betrieben.
Bei der Pariser Metro werden die Reifen mit Stickstoff gefüllt, um Brände zu vermeiden, wenn es zu einer Blockierung kommt. Es darf bezweifelt werden, dass es den Entscheidern in erster Linie um den Passagier-Komfort gegangen ist – die Qualität liegt in der guten Anfahrtbeschleunigung und den guten Bremseigenschaften.
Schaut man in andere Städte mit U-Bahnen in Frankreich, so findet man dieses System in vielen Städten – aber auch in Chile, Japan und Kanada.
Und Éveline?
Nach diesem kleinen Exkurs in die Welt der Eisenbahn stellt sich noch eine Frage: Fuhr Éveline Jave wirklich mit einer echten »Micheline«? Schwierig zu sagen, denn der Begriff galt (und gilt?) als Synonym für Schienenbusse in Frankreich. Durchaus möglich, dass es ein ganz normaler Zug mit Eisenreifen war, der sie von Cannes nach Nizza brachte – von wo aus sie in den Tod reiste.