Lyzeen Théodore de Banville

Vor verschlossener Tür


Zu den Dingen, die ich persönlich als großes Pech bezeichnen würde, gehörte mein plötzliches Ableben am Tag vor meinem Geburtstag. Schließlich hätte meine liebe Frau alle Geschenke gekauft und der Geburtstagstisch wäre gewiss präpariert. Würde sie mich in dem Augenblick einen undankbaren Kerl schimpfen, ich hätte großes Verständnis für sie.

Das habe ich mit meiner Frau besprochen und sie meinte nur »Genau!«. Dabei hielt sich die Hand vor den Kopf und es war ein leichtes Schütteln zu sehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte sein, dass sie der Gedanke, dass ich meine letzten an meinen Geschenketisch verschwenden könnte, nicht geheuer ist.

Keine Ahnung habe ich, was Théodore Faullain de Banville durch den Kopf ging, als er am 13. März 1891 - einen Tag vor seinem 68. Geburtstag für immer die Augen schloss. Was seine Frau Marie-Élisabeth Rochegrosse, die ihn um dreizehn Jahre überlebte, dazu meinte, ist nicht überliefert.

Die Banvilles stammten von der Küste, hatten sich aber schon lange Zeit vor der Geburt in Moulins niedergelassen. Der Vater war in der Marine gewesen. Offenbar war er viel in der Weltgeschichte unterwegs, denn er erkrankte zweimal an Malaria. Sein Abschied von der Seefahrt wird in Zusammenhang mit den Erkrankungen gebracht. Drei Jahre nach dem Ende seiner Marine-Laufbahn wurde er Vater eines Jungen. Dieser wurde im Alter von sieben Jahren nach Paris gebracht, um dort zur Schule zu gehen. Mit sechzehn entdeckte er seine Liebe zur Literatur, genauer gesagt zur Poesie und versuchte sich an seinen ersten Versen. Ermutigt wurde er schon früh vom etwa zwanzig Jahre älteren Victor Hugo. 

Seine berufliche Laufbahn wurde wahrscheinlich von der Familie vorgegeben: Banville studierte Jura bis 1842 und schloss das Studium erfolgreich ab. Ein großer Rechtsgelehrter wurde er nicht. Stattdessen entwickelte sich zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Poeten seiner Zeit in Frankreich. Er wird den Romantikern zugerechnet, aber auch den Parnassiens, eine Richtung der Lyrik, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstand. Wichtig war den Parnassians Formstrenge und Gefühllosigkeit, was insofern irritieren ist, da er aus als »Dichter des Glücks« tituliert wurde. Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass er der Meinung war, dass Realismus in der Lyrik nichts zu suchen habe.

Seiner Feder entsprangen auch Theaterstücke und ein Roman, der kurz vor seinem Tod erschien. Darüber hinaus, von irgendetwas muss der Mensch leben, war er sowohl in Zeitschriften als Kritiker und Kolumnist angestellt.

Kein guter Ruf

Das Gymnasium in Moulins hat stattliche 220 Jahre auf dem Buckel. Es gilt als eines der ältesten Gymnasien Frankreichs. Napoleon selbst kam nach Moulins, um die Schule einzuweihen. Das Gelände war zuvor ein Kloster gewesen und so wundert es auch nicht, dass der Schule eine Kapelle angeschlossen war – offiziell gehörte diese bis 1998 dazu. Heute wird die Kirche von der Stadt betreut und ist gelegentlich auch zu besichtigen. 

Wer das Gymnasium in den ersten neunzig Jahren besuchte durfte, hatte es nicht leicht. Es gab weder eine Heizung noch warmes Wasser. Die Toiletten befanden sich nicht im Gebäude. Mit dem Tragen der Schuluniform mochte man sich noch abfinden, die Regeln waren strikt und es herrschte militärische Disziplin. Mit Beginn der 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts wurde das Regime gelockert. Wenn nicht, wäre es auch unverständlich, warum das Gymnasium nach einem der berühmtesten Söhne der Stadt, Théodore de Banville, benannt wurde, der als Dichter aber weniger mit der Zucht und Ordnung am Hut gehabt haben dürfte. Seit 1895 trug das Gymnasium den Namen des Wahl-Parisers.

In der Liste der ehemaligen Schüler und Lehrer dieser Institution befinden sich zwei, deren Name beziehungsweise auch ihre Geschichte etwas sagen. Die Tatsache, dass die anderen Herrschaften – es werden nur Männer aufgeführt – mir unbekannt sind, wird weniger an deren mangelnden Verdiensten liegen, sondern viel mehr an meiner Unwissenheit und vielleicht auch Sozialisation). 

Der erste Name ist mit der jüngeren, leider schrecklichen Geschichte verbunden: Samuel Paty besuchte drei Jahre die Schule. Im Jahr 2020 kam der Geschichts- und Geographie-Lehrer bei einem Terror-Anschlag beim Verlassen seiner Schule in Conflans-Saint-Honorine (in der Nähe von Paris) ums Leben, als er von einem fehlgeleiteten Möchtegern-Gläubigen enthauptet wurde. Die zweite mir bekannte Persönlichkeit soll ebenfalls dieses Gymnasium besucht haben, allerdings war dieser Schulbesuch nur fiktiv: Jules Maigret.

Da der Schulbesuch 1899 begann (etwa im Alter von zwölf Jahren[MJ]), hatte das Gymnasium seinen neuen Namen und er dürfte schon von den ersten baulichen Verbesserungen profitiert haben. Ganz so hart wie in den frühen Jahren waren die Schulstunden für den späteren Kommissar nicht.

In Moulins

Image Lightbox

Moulins (vorne die Allier)

Credits: maigret.de

Bevor ich nun offiziell für verrückt erklärt werde: Moulins ist wirklich ein hübsches Städtchen, anders kann ich es nicht sagen. Der Stadtkern hat die reizenden Fachwerkbauten, die alle Welt toll findet. Die Franzosen selbst, wenn sie nicht gerade in der Großstadt leben, empfinden das wohl als »total normal« und können nicht verstehen, warum manche Menschen über Teich gejettet kommen, um diese hier in Europa zu bestaunen. Geht vermutlich in Deutschland auch manchem so. Dazu kommen noch ein paar sehenswerte Kirchen und von der Allier hat man einen reizenden Blick auf das Städtchen.

Die Kombination aus »ansprechend« und »klein« ließ mich die Stadt aufsuchen und natürlich auch das Gymnasium. Der Erfolg? Durchwachsen. Vielleicht ist es nicht besonders clever, an einem Freitagnachmittag dort aufzutauchen. Das Bild mag es nicht preisgeben, aber es war der einzige Tag dieses Frankreich-Aufenthaltes, an dem es ausgiebig regnete (und wir waren ohne Regenjacken) unterwegs. Sonst wären wir schon früher vor Maigrets Lernstätte aufgetaucht. Dann marschierten wir auch noch falsch herum um das Karree. Was jedoch nicht ganz stimmt. Der offizielle Eingang ist oben abgebildet, das war aber nicht das Portal, über das Maigret seinen Zutritt wählte – den habe ich zwar genutzt, aber nicht fotografiert (gut vorstellbar, wie ich reagierte, als ich das realisierte).

Aber der Reihe nach.

Der heutige offizielle Eingang ist das Tor mit dem Schild. Davor befindet sich eine Bushaltestelle und die Schüler können ohne Drängeln in die Schule eintreten. Kommt man zu einer ungünstigen Zeit, so ist das Tor zu und Eintrittswillige haben zu klingeln, woraufhin ein Summer ertönt. Wer nun meint, es geschafft zu haben, steht vor metallenen Drehtüren, die nur mit einem Ausweis den Eintritt freigeben. Schüler haben den, Maigret-Fans üblicherweise nicht. Vielleicht hätte man sich eine Führung organisieren können, aber an einem Freitag-Nachmittag …

Wir standen nicht vor diesem, sondern kreuzten die Straße Rue du Lycée … und dachten uns: Ja, das wird wohl die Straße sein. Wahr leider ein Fehlschluss, denn die Feldstraße in Kiel führt genauso wenig zu einem Feld, wie die Straßen des Friedens zum Frieden führen. Dabei kamen wir übrigens am »Hôtel de Paris« vorbei, welches heute ein Mercure-Hotel ist, aber schon bei Simenon Erwähnung findet[RDFIEH] – was mir aber erst entdeckte, als in der häuslichen Bibliothek saß (gut vorstellbar …). Wir bogen dann in die Rue de Paris aus und dass man nicht so falsch ist, sahen wir daran, dass wir an der früher zur Schule gehörenden Kapelle vorbeikamen.

Beinahe hätte ich geschrieben, es folgt das bekannte Tor – aber bekannt ist es nur denen, die sich mit der Schule schon mal befasst hat. Es ist das sogenannte »Ehrenportal« (»Portail d'honneur du lycée«) und führt in den Ehrenhof, den ich aber durch Gitter beschauen konnte. Die Unterschiede zu den alten Aufnahmen sind nicht so frappierend. Heute stehen in dem Hof Fahrräder. Die hätte man früher vor hochrangigem Besuch beiseite geräumt.

Geht man die Straße weiter herunter, steht man vor einem alten Stadttor (oder was davon übrig ist) und kann sich dann nach links wenden. Damit ist man im Cours de Bercy und findet wiederum keinen Zugang zur Schule. Der kommt erst nach der nächsten Ecke – wenn einem ein Termin, ein Schüler- oder Lehrer-Ausweis fehlt, wird man aber nicht weiterkommen.

So ganz hatte unser Herbergsvater nicht recht, als ich ihn fragte, ob man das Gymnasium besichtigen könne – kein Problem, meinte er, das würde gehen. Aber ich empfand es trotzdem nicht als Enttäuschung. Wenn man die Lehrstätte einer fiktiven Figur betrachtet, muss man schon ein paar Abstriche machen. 

Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich Harry Potter-Fan wäre. Schwieriger auf jeden Fall.