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Wahnsinn
Für das englische Wort »craze« gibt es eine stattliche Anzahl von Übersetzungen. Von »Begeisterung« über »verrückt« bis hin zu »Wahnsinn«. Der Kontext ist das entscheidende. Der hat sich mir immer noch nicht erschlossen, wenn davon die Rede ist, dass Irving Berlin einen »national dance craze« auslöste. Ich tendiere zu dem milden ersten Begriff der Liste.
»The Star-Spangled Banner« ist die offizielle Hymne der Vereinigten Staaten. Man kennt sie, denn wer hin und wieder einer der zahlreichen patriotischen Blockbuster gesehen hat, der kommt kaum um sie herum. Obwohl das Lied, welches lustigerweise auf der Melodie eines englischen Trinkliedes von John Stafford Smith basiert, schon 1814 geschrieben wurde, wurde es erst 102 Jahre später von Präsident Woodrow Wilson zum Top-Hit bei offiziellen Anlässen erklärt, bevor es in der Amtsperiode von Herbert Hoover zur Nationalhymne erklärt wurde. Wer keine Tests in amerikanischer Geschichte belegt hat (oder für irgendwelche Staatsbürger-Prüfungen), könnte auf den Trichter kommen, ein anderes Lied wäre die amerikanische Nationalhymne: »God bless America«, welches von Amerikanern auch mit Inbrunst bei halboffiziellen Anlässen und bei Sportveranstaltungen geschmettert wird. Aber bei der Wahl von Nationalhymnen geht weniger um Popularität, Geschmack oder Befindlichkeit. (Ginge es danach, würden sich die Briten im Augenblick vielleicht für »Help!« von den Beatles entscheiden; für die Deutschen mag ich mir da keine Gedanken machen.)
Dieses Lied wiederum wurde von einem Immigranten verfasst, welches fünfundzwanzig Jahre zuvor aus Russland in die Staaten eingewandert war. Dankbarkeit war der Grund dafür, dass er dieses Lied komponiert und schrieb. Liest man sich die Biografie des Mannes durch, versteht man die Dankbarkeit durchaus. In seinem Geburtsland hatten die Bewohner einen ausgeprägten Hang zu Pogromen, die, gerade wenn man auf der falschen Seite steht, sehr wenig Spaß machen. Die Eltern entschlossen sich, das Land zu verlassen, mit dem künftigen Komponisten-Star im Gepäck. Sie lebten in den Vereinigten Staaten in bitterer Armut, was zum Teil auch an dem frühen Tod des Vaters lag. Dieser verkürzte die Dauer des Schulbesuchs des Jungen, der sich als Bote verdingen musste, erheblich. Im Alter von 14 Jahren riss er von zu Hause aus und verdiente als »Singender Kellner« sein Geld in einem Café in New York.
Irving Berlin (1907)
Credits: Public Domain
Alter Krams, mag so manche oder mancher denken, wenn er von einem Vierzehnjährigen hört, der kurz nach dem vorletzten Jahrhundert-Wechsel sein Glück in Big Apple probierte. Wir kommen aber kaum herum, anzuerkennen, dass er sich noch heute in unsere Ohren spielt. Nicht nur mit dem patriotischen »God bless America«, sondern auch mit Klassikern wie »White Christmas« und »There’s No Business Like Show Business«. Die Rede ist von Irving Berlin, der im »Great American Songbook« auf die meisten Nennungen kommt – was eine erstaunliche Tatsache ist, zu der hinzukommt, dass er sich üblicherweise sowohl um die Komposition als auch den Text kümmerte. Sein Pensum war sowohl in Qualität wie in Quantität immens.
Dieser kleine Junge wurde in einem der Cafés, in dem er sang, entdeckt und als Schreiber engagiert. Bald schrieb Berlin seine ersten Shows für den Broadway und dank des zunehmenden Erfolgs wurde ein Theater für ihn gebaut, dessen Eigentümer er später werden sollte: das »Music Box Theatre«. Den Grundstein für seinen Aufstieg sollte ein Stück legen, der sich an einen Stil anlehnte, welcher seinen Höhepunkt zu der Zeit schon überschritten hatte.
Ragtime
Scott Joplin, der als König des Ragtimes gilt, meinte einmal, dass es diesen Musik-Stil in Amerika gegeben hätte, seit dem die Sklaven auf den ihnen fremden Kontinent verschleppt wurden. Nur die Weißen hätten es nicht mitbekommen. Erst in den 1890er-Jahren hätten diese ihn bemerkt. Praktischerweise war das die Zeit, in der er mit Stücken wie »Maple Leaf Rag« und »The Entertainer« das Genre erobert hatte. Mit letzterem Lied verhält es sich wie mit den Songs von Irving Berlin: Unmöglich, es nicht schon mal gehört zu haben.
Ragtime und Klavier gehören zusammen. Üblicherweise wurden sie für das Piano komponiert, auch wenn sie später auf anderen Instrumenten – beispielsweise dem Banjo – gespielt wurde. Geprägter ist der Ragtime von seinem synkopierten Rhythmus. Na klar, denken sich die Kundigen, wie sollte es anders sein? Ich jedoch las mir die Erklärung von Synkope durch und dachte nur: »Was zum Henker?« Das muss mir anhand eines Beispiels erklärt werden und begab mich zu YouTube, um zu schauen, ob es ein Tutorial zu dem Thema gibt. »Um zu schauen« hört sich danach an, als hätte ich Zweifel gehabt. Die hatte ich nicht, nur die Qualität ist unterschiedlich. Ich hatte Glück und habe nicht den ersten Beitrag genommen, sondern den zweiten in der Liste.
Also: Es handelt sich um eine Verschiebung der Betonung. Als Europäer sind wir es gewohnt, bei einem 4/4-Takt, dass jeder zweite Ton betont ist. Durch Synkopen wird die erwartete Betonung verschoben und ausgelassen. Dadurch entsteht eine »Überraschung«, die aber gewollt ist und das Gehörte interessant macht. Was sich wie eine Ausnahme anhört, gehört zum guten Ton in der populären Musik.
Zuerst war der Ragtime, dann kam der Jazz – ersterer hat einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung letzteren. Das Aufkommen des Jazz sorgte dafür, dass Ragtime außerhalb einer Liebhaber-Gemeinde in Vergessenheit geriet und erst in den 1970er-Jahren wieder hervorgekramt wurde. Dass eine breite Öffentlichkeit nun wüsste, was es mit dem Ragtime auf sich hätte, ließe sich aber nur schwer behaupten. Und dass der Karrierestarter Irving Berlins »Alexander's Ragtime Band«, wie schon erwähnt, kein reinrassiger Ragtime, ist heute auch kaum noch bekannt. Da hilft es auch nicht, dass der Titel von vielen bekannten Musikern wie Louis Armstrong und Bing Crosby gecovert wurde.
Innerhalb weniger Wochen erlangte das Stück große Popularität. Damals bekannte Künstlern trugen das Stück auf der Bühne vor. Einen echten Boost verschaffte dem Titel eine Schallplatten-Aufnahme der Komiker Arthur Collins und Byron G. Harlan. Über Monate stand der Song von Berlin an der Spitze der Hitparaden.
Das Paar
Geburtsort und und Geburtstag von Irving Berlin lassen sich nicht genau angeben. Er starb hochbetagt im Alter von über hundert Jahren, nach einem sehr produktiven Leben in New York. Einem anderen Mann war das nicht vergönnt: Vernon Castle.
Am 2. Mai 1887 wurde William Vernon Blyth als Sohn eines Pub-Besitzers in Norwich geboren. Der Engländer entschloss sich 1906 mit seiner Schwester und deren Ehemann nach Amerika zu gehen. Was konnte der Mann gut? Tanzen.
Fast sechs Jahre später wurde in New Rochelle, welches nicht nur für hiesige Verhältnisse um die Ecke von New York liegt, Irene Foote als Tochter eines Arztes geboren. Während über die Vorbildung von Blyth weniger bekannt ist, studierte Foote Tanz und trat in mehreren Theatern als Amateurin auf.
Der Erfolg stellte sich ein, als sie 1910 auf den Mann aus England traf und sie sich als Vernon und Irene Castle zusammentaten. Das taten sie nicht nur als Künstlerpaar, auch privat schlossen sie einen Bund. Schon ein Jahr später heirateten sie, und reisten nach Frankreich, um den Pariser zu zeigen, wie das mit dem amerikanischen Tanz geht. Sie waren bei einer Tanzrevue angestellt, aber diese Show funktionierte offenbar nicht so gut, dass sie sich eine andere Stellung suchen mussten. Die fanden sie im »Café de Paris«, wo sie als Show-Tänzer die neusten Ragtimes aus Amerika aufführten. Auch dort weckten sie mit ihren Darbietungen die Tanz-Begeisterung der Menschen. Ihre in der französischen Hauptstadt gezeigten Künste waren das Fundament für eine Rückkehr in die Staaten ein Jahr später. Dort hatte man ihren phänomenalen Erfolg in Paris berichtet und so wurden sie schon erwartet. Am Broadway etablierten sie sich in kürzester Zeit als Stars.
Vernon and Irene Castle
Credits: Public Domain
Darüber, wer sich wessen rühmen konnte, lässt sich trefflich streiten: Waren es die Castles, die sagen konnten, dass Berlin eine Partitur für sie schrieb, oder war es vielleicht Berlin, der hätte behaupten können, dem Paar ein passgerechtes Musical produziert zu haben. Letztlich waren es beide Seiten, die von dem »Watch Your Step« aus dem Jahre 1914 profitierten.
Für Irving hatte sich der Erfolg ausgezahlt und auch für die Castles galt das. Sie eröffneten eine Tanzschule in New York und einen Nachtclub in Long Beach ganz in der Nähe. Dazu kam noch ein Restaurant mit dem wohlklingenden Namen »Sans Souci«, was ich als gebürtiger Potsdamer natürlich reizend finde und als Indiz dafür werte, dass das Pärchen sich in Frankreich recht wohl gefühlt hatte. In der Tanzschule unterrichteten sie selbst. Zu ihrer Klientel gehörten die Reichen (und vielleicht auch die Schönen). Einige unter diesen begüterten Tanzwütigen neigten dazu, den Castles zu verstehen zu geben, dass sie »nur« Angestellte wären und behandelten sie auch so. Vernon Castle pflegte darauf hin die Tarife für diese Herrschaften anzupassen.
Vernon war siebenundzwanzig Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Der Tänzer meldete sich zur Armee und ließ sich zu einem Piloten ausbilden. Er war in über dreihundert Einsätzen im Krieg aktiv und wurde dafür ausgezeichnet. Auch dafür hatte er ein Talent und Castle wurde herangezogen, neue Piloten auszubilden. Bei einem dieser Ausbildungsflüge kam es 1918 in Texas zu einem Unglück, er stürzte ab und verlor sein Leben.
Seine Frau hatte schon während seiner kriegsbedingten Abwesenheit einige Solo-Auftritte absolviert. Sie wurde für eine große Produktion als – wie es heute heißt – Headlines engagiert. Aber abgesehen davon, dass sie sich bei diesen Auftritten allein auf der Bühne fühlte und ihr Vernon beim Tanz fehlte, scheiterte die Produktion krachend. So kann man sich gut vorstellen, dass nach dem Tod ihres Lebens- und Tanzpartners sie sich von der großen Tanzbühne zurückzog.
Im Gai-Moulin
In dem Lütticher Tanzlokal spielten die New Yorker Tanz-Künstler keine Rolle. Die Stücke von Irving Berlin mochten aufgeführt worden sein, aber die Lieder wurden nicht durch einen Conférencier angekündigt – also war es dem Publikum egal. Letztlich mussten Sie sich durch diesen faszinierenden Teil der Geschichte quälen, weil Simenon einen Tanz erwähnte, der zuvor an dieser Stelle keine Erwähnung fand:
Die Musik verstummte kurz, dann wurde ein Boston angestimmt.
Berücksichtigen Sie, dass ich schon meine Probleme mit der Begrifflichkeit der »Synkope« hatte, können Sie sich gut vorstellen, dass meine Synapsen das Wort »Boston« registrierten wie eine Katze Tofu. Von Tänzen habe ich so überhaupt keine Ahnung und jedwede Beschreibung von Schrittfolge lässt mich an meinem Intellekt zweifeln – das raffe ich nicht. Weder in der Theorie noch in der Praxis.
Die geschichtlichen Aspekte, die mit Tänzen und mit Musik verbunden sind, die interessieren mich aber ungemein. Und hier kommen die Castles ins Spiel, denn diese machten auf dem Höhepunkt ihrer Popularität den Boston bekannt. Dabei war es zu dem Zeitpunkt auch schon ein alter Hut – vierzig Jahre zuvor in den 1870er-Jahren war er als Variation des Wiener Walzers entstanden, allerdings nicht etwa eine flotte Form, sondern eine langsame. Also war es an den Schritt-Künstlern einen neuen Boston-Trend in den Staaten zu etablieren.
Denn Simenon hat geschrieben, dass das Orchester »einen Boston« gespielt hätte, aber die Frage ist, was für einen. Von diesem Tanz, dessen Ursprungsort wohl im Namen verraten wird, werden fünfzehn verschiedene Variationen gezählt, von denen wiederum viele unter unterschiedlichsten Bezeichnungen bekannt sind. Hätte sich unter den Gästen der Bar jemand befunden, der sich mit Tanzen auskennen würde – richtig auskennen, meine ich –, der hätte versucht herauszubekommen, was er genau zu treiben hat.
Die Tanzfigur möchte ich an der Stelle gar nicht weiter eingehen. Die Beschreibungen habe ich mir durchgelesen, und als ob ich selbst wie wild tanzen würde, dreht es sich mir im Kopf. Besser ist es, ich lasse es. Zumal ich keinen Plan hätte, worüber ich genau schreibe.
Die Castles hatten sich auf den One-Step kapriziert und ihm als besondere Note den Castle Walk hinzugefügt, der wiederum mit seiner Einführung in den Tango populär wurde. Bei diesem Tanz geht der Mann ständig vorwärts und die Dame jedesmal rückwärts.
Für diejenigen, die den Text beiseitelegen wollen, um es mit dem Partner oder der Partnerin auszuprobieren, gibt die Beschreibung von Troy Kinney einen kleinen Einblick:
Es handelt sich um einen Schritt mit direktem Vorwärts- und Rückwärtsgehen, der nicht dazu dient, sich zur Seite zu bewegen. Das Paar befindet sich in geschlossener Position, was heißt, dass die Frau einen Schritt zurück macht, wenn der Mann einen Schritt nach vorne bewegt, und andersherum. Der voranschreitende Fuß steht in der vierten Position, das Knie ist gestreckt, die Fußspitze nach unten gerichtet, so dass der Fußballen zuerst den Boden berührt. Der Gang wirkt wie ein Stolzieren, obwohl die Schultern gerade gehalten werden und der Körper fest ist; eine scharfe Drehung, die jeden Schritt unterstreicht, wird durch das Drehen des Stützfußes bewirkt. Die Schulter- und Hüftbewegungen, die ursprünglich den »Trab« kennzeichneten, werden nicht mehr praktiziert.
Für den nicht tanzenden Maigret-Liebhaber bleibt die Erkenntnis, dass die Paare sich auf die Tanzfläche bewegen durften und es dort nicht sonderlich hektisch zuging.
Und Simenon? Bei seinem gesellschaftlichen Leben, insbesondere bei seiner tieferen Bekanntschaft mit Josephine Baker, die wie die Castles zu den herausragenden Tänzern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte, darf man annehmen, dass er einige Kenntnisse bezüglich des modernen Gesellschaftstanzes seiner Zeit hatte.