Müller und Karr

Zahl trifft auf Begriff


In der Geschichte um Otto Müller wird viel mit Daten hantiert. Macht man das als Schriftsteller, dann bekommt die Story einen Touch von Wahrheit und wirkt echter. Allerdings darf man die Fakten nicht aus den Augen verlieren, denn ansonsten kommt ein Schlaumüller daher – womit nicht der Beschuldigte von Richter Froget gemeint ist – und sagt: »Moment, das kann doch nicht sein!«

Froget las dem Beschuldigten aus den Akten vor, die ihm zu dem Fall vorlagen. Die drehte sich um Müller, wie sich leicht denken lässt. Zu den genannten Fakten gehört:

  • Müller wurde 1889 in Wilhelmshaven geboren
  • er kam im November 1929 nach Paris
  • dort traf er auf Helmut Karr
  • der war zu dem Zeitpunkt fünfzig Jahre alt
  • beide waren Schulkameraden aus Wilhelmshaven

Normalerweise wird der Begriff »Schulkamerad« dann verwendet, wenn man zur gleichen Zeit die gleiche Schule besucht hat und einen direkten Kontakt hatte. In meiner gewohnt engstirnigen Auslegung würde ich sogar sagen, dass dies eine zwingende Verknüpfung ist. In meinem Fall war es so, dass wir drei Klassen in einem Jahrgang waren, und ich wäre schon vorsichtig mit dem Begriff für die aus den anderen Klassen. Diejenigen, die eine Klassenstufe über oder unter mir waren, würde ich gar nicht dazuzählen. 

Aber so wie man mit dem Begriff »Freund« sehr freizügig umgehen kann, kann man das auch mit dem »Kameraden«-Begriff handhaben. (Tue ich, lässt sich leicht vorstellen, ebenso nicht.)

Selbst, wenn ich ein wenig lockerer wäre, haut das in diesem Fall aber überhaupt nicht hin. Denn Müller war zum Zeitpunkt des Verbrechens vierzig Jahre alt. Da mochten sie vielleicht die gleiche Schule in der norddeutschen Stadt besucht haben und bei einem Wiedersehen zufällig drüber gestolpert sein. In ihrer Jugend werden sie aber miteinander überhaupt nichts miteinander zu tun gehabt haben. Denn welcher Sechszehnjährige würde einen ernsthaften Blick auf die werfen, die gerade eingeschult worden sind?

Aber der Knackpunkt ist wohl vielmehr, dass Simenon im Geiste sehr wohl die beiden als Klassenkameraden gesehen hat, sich bei den Daten einfach verrechnet (oder nur vertippt hat).