Als ich alt war
Mit diesem Band veröffentlichte Simenon Ausschnitte aus seinen Tagebüchern. Vieles findet sich in Ausschnitten auch gern in Sammelbänden über den Schriftsteller wieder. Es erlaubt einen Einblick in eine Zeit, in der die Familie Simenon nach außen hin noch die heile Welt gab. Hinter den Kulissen, das bekommt man mit, sah es anders aus.
Tagebücher, Ideensammlungen, hingeworfene Gedanken - es lässt sich wirklich schwer einordnen, was Simenon mit diesem Buch bezweckte. Es ist, das hat mich, der mit autobiographischen Schriften große Probleme hat, ja, sie eigentlich mehr oder weniger uninteressant findet, sehr überrascht, sehr gut lesbar. Es ist die interessante Mischung, die das Buch ausmacht, die einem zum Weiterlesen animiert.
Simenon bedient mit diesem Buch ganz unterschiedliche Klientel: eigentlich ganz typisch für ihn, mit seinen Romanen und Erzählungen verhält es sich nicht anders! Ein Aspekt ist das Private: seine Kinder spielen eine große Rolle. Da wären Marc, der Älteste, gemeinsamer Sohn mit seiner ersten Frau, in Paris lebend, seit einiger Zeit aus dem Haus, den Simenon immer noch in seinem Augapfel hat, dem seine Sorge gilt, egal wie erwachsen der Sohn sein mag. John (Johnny genannt), der zweitjüngste Sohn, ist auf dem Weg in die Pubertät und lehnt sich immer häufiger gegen seinen Vater auf. Simenon reagiert mit einer Mischung aus Verwunderung und Verständnis: es tut weh, wenn man beschimpft wird und die reuige Entschuldigung des Sohnes, dass »Dreckskerl« keine so üble Beschimpfung sei, wie zum Beispiel »Idiot« und anderes ist für den Schriftsteller nur ein geringer Trost - zumal er auch schon diese Beschimpfungen über sich hat ergehen lassen müssen. Eine kleinere Rolle spielt Marie-Jo, die sieben, acht Jahre alt ist, als Simenon diese Tagebücher schrieb, der aber später ein großes Werk gewidmet wurde. Sie lebt in dem Haushalt, wenn man Simenon glauben darf, ihr eigenes Leben. Größeren Raum nimmt Pierre ein, dessen Leben zwischen anderthalb und drei Jahren sehr detailliert geschildert wird, der das Leben der Simenons immer mehr bestimmt. Gezeichnet ist das Buch von der Liebe zu Denise, welches ein abruptes Ende am Ende des Tagebuches nimmt, verwunderlich und überraschend: der Tagebuchschreiber hat fast ein Jahr übersprungen. So müsste es eigentlich auch heißen »Tagebücher 1961/62«, der Eintrag 1963 wirkt nur wie ein Nachtrag.
Wurde über den Menschen Simenon berichtet, so wurden ihm die verschiedensten Etiketten angehängt: er wäre unheimlich reich. Simenon stellt das nicht klar, das hat er nicht nötig. Er stellt einfach nur fest, dass er solche Fragen unverschämt findet und noch unverschämter, die Erpressungsversuche, denen er ausgesetzt ist, wenn er nicht darauf antworten will: Sie wollen nicht antworten, gut!, dann erfinden wir halt was. Sollen sie doch mag Simenon nicht sagen, aber verraten tun wir es trotzdem nicht. Er hat übrigens unter einem Phänomen zu leiden, welches heute besonders von Lottogewinnern bekannt ist. Wird der Gewinn bekannt, bekommt man plötzlich Bettelbriefe von Menschen, die der Meinung sind, man habe soviel Geld, dass man es doch teilen könne. Mir ist dieses Verhalten der Mitmenschen genauso ein Rätsel, den Lottogewinnern und Simenon ist es sicher nicht anders gegangen. Für den Schriftsteller umso ärgerlicher, weil man ihm nicht den Vorwurf machen kann, er wäre zu dem Geld nur durch pures Glück gekommen.
Die Tagebücher geben einen guten Einblick in das Arbeitsleben von Simenon. Wie entsteht ein Buch? Wie plant Simenon ein Buch? Mit welchen Mühen ist es verbunden? Simenon geht häufiger einmal mit einem Roman-Thema schwanger, zögert aber das Schreiben, immer wieder hinaus. Dann gibt es eine Pause im Tagebuch und zehn Tage später heißt es plötzlich: Fertig! Häufig sind diese Bemerkungen durch Worte gekennzeichnet, die man aus Comics kennt: Uff, heißt es dann einfach. Danach lässt sich der Belgier in der Regel ein, zwei Wochen Zeit, um dann mit der Überarbeitung zu beginnen. Interessant fand ich, dass Simenon nach der Beendigung eines Romans, und das war bei jedem Roman so, der 1961/62 entstand, erst einmal auf Wolke 7 schwebte und dann zwei, drei Tage später in tiefe Depression stürzte, weil er nicht zu sagen vermochte, ob er eines gutes oder schlechtes Werk geschaffen hat.
Deutlich wird auch die starre Trennung zwischen Roman und Maigret. Ein Maigret zu schreiben, bedeutet für Simenon fast Erholung. Die richtigen Romane, wie er es beschreibt, machen ihm viel mehr Mühe, lassen ihn mehr leiden.
Nun ist Simenon schon einige Jahre tot und seine Geburtstage, die er selbst nicht mehr erleben kann, geben für den Boulevard-Journaille nicht mehr viel her, seine Tagebücher zu der damaligen Zeit ausgewertet, hätten allerdings jede Menge Stoff ergeben. Wer schon bei »Carissimo Simenon - Mon cher Fellini« staunend das Interview überstanden hatte, der dürfte in diesem Buch noch mehr am Staunen sein. Sex spielte eine große Rolle, auch wenn Simenon das immer wieder herunterzuspielen versucht. Wie soll man das mit Bemerkungen vereinbaren, in denen er berichtet, dass er morgens von einer Frau kam, sich gleich nach der nächsten umdrehte (wobei wohl nicht nur umdrehen gemeint war), und nachmittags noch den Drang verspürt hat, ein, zwei Prostituierte aufzusuchen? Henry Miller hat wahrscheinlich von Simenon gelernt.
Ein anderer Punkt, den ich auch sehr interessant fand, war die politische Einstellung von Simenon. Davon abgesehen, dass er von sich selbst sagte, dass er, hätte er das Angebot einer bestimmten belgischen Zeitung mit neunzehn Jahren angenommen, höchstwahrscheinlich nach einiger Zeit Minister geworden wäre, ist sehr interessant, das Simenon in seinen Tagebücher zu allen politischen Ereignissen Stellung nimmt. Dabei ist zu merken, dass der Schriftsteller eine eher linke Einstellung vertritt: er begeistert sich für den Aufbruch auf dem afrikanischen Kontinent und den sich entwickelnden globalen Aufbruch der jungen Generation, mag de Gaulle überhaupt nicht - von der Algerien-Politik Frankreichs einmal ganz zu schweigen.
Simenon hängt sich das Etikett »ich bin politisch« nicht um und weiß, dass weder die Gesellschaft noch die Politik in seinem Werk eine Rolle spielen. Eine Erklärung liefert Simenon selbst: er vermag nicht, solche Vorgänge zu schildern. Sein Fokus ist auf eine Person gerichtet, dessen Erleben schildert er.
Für jeden, der sich für das Leben und Werk des belgischen Autors interessiert, ist dieses Werk ein Muss, denn es stellt eine ungeheure Fundgrube dar.