Die große Zeit
Die Kurzgeschichten waren nur ein Zwischenspiel, Fingerübungen für Simenon. Anfang der 40er Jahre kehrte Maigret zurück und sollte gedeihen. Er gewann an Format und Erfahrung. Simenons Anfängerfehler, wenn man sie so nennen will, sind in diesen Romanen nicht zu finden.
Es hat sicher zwei goldene Zeiten gegeben, was die Maigret-Romane angeht: Was die Produktivität und die Qualität anging, so waren die 40er und 50er Jahre wirklich Simenons herausragende Jahre. Die zweite goldene Periode setzte in den Sechzigern ein. Während in den 50er Jahren Wunderkisten nur vereinzelt in den Haushalten zu finden waren, so setzte in dem Jahrzehnt darauf ein wahrer Boom ein, was die Verbreitung von Fernsehern anging. Anfang 1957 war die Millionen-Grenze der Fernsehempfänger in Deutschland gerade erreicht, 1960 waren es schon vier Millionen Teilnehmer (weiter Zahlen findet man in der Wikipedia, wobei mit Teilnehmern vermutlich Haushalte gemeint sind). Sie zeigt, die exorbitante Entwicklung dieses Mediums und in dieser Zeit entschloss sich die BBC eine Serie über den Pariser Kommissar zu drehen, die Anfang der sechziger Jahre auch nach Deutschland kam.
Mochte Simenon auch eine große Leserschaft in Deutschland in dieser Zeit erreicht haben, eine Leserschaft, die er in Frankreich von je her hatte, wobei nicht vergessen darf, dass dieses dem früheren Leitmedium Kino und seinen Maigret-Verfilmungen geschuldet ist - die Fernsehverfilmungen (es gab in den sechzigern Jahren nicht nur Rupert Davies sondern auch den italienischen Gino Cervi) haben der Popularität des Kommissars einen weit größerer Vorschub geleistet als jedes Buch.
Die Ursuppe
Wie ein Bär
Das schleichende Ende
Kleine Maigrets
Im Winter 1939/40 schrieb Simenon wieder Maigrets in Roman-Form. Erst zwei Jahre später sollten sie in Buchform erscheinen und gleich zwei Neuigkeiten bieten: Zum einen erschienen mehrere Maigret-Romane in einem Band und Simenon hatte Fayard verlassen und war zu Galllimard gewechselt. »Maigret revient« hieß der Band, der gleich drei Romane enthielt: »Maigret und die Keller des Majestic«, »Maigret verliert eine Verehrerin« und »Maigret im Haus des Richters«. Nun befand man sich in der Zeit mitten im Krieg. So mochte diese Maßnahme dem damaligen Papiermangel geschuldet sein. Denn auch die nächsten Maigret-Romane erschienen im Mehrfachpack, diesmal unter dem Obertitel »Signé Picpus« und enthielten sowohl »Maigret contra Picpus« als auch »Maigret und das Dienstmädchen« und »Maigret und sein Rivale«. Unmittelbar nach dem Krieg, Simenon hatte mittlerweile seinen Ranzen gepackt und war in die USA emigriert, wechselte der Schriftsteller zu dem neugegründeten Verlag Presses de la Cité und in diesem erschienen die Maigrets auch wieder in Einzelbänden. Insofern kann man davon ausgehen, dass die Mehrfach-Erstveröffentlichungen keine Marketing-Maßnahme waren.
Mit der großen Überfahrt Simenons wurde auch Maigret eine Überfahrt verpasst. Maigret, mittlerweile im Ruhestand, wird angeheuert, einen verschwundenen Sohn zu suchen. Er »darf« seine Koffer packen und die Gangster-Mentalität in New York kennenlernen. Nach der New York-Reise im Ruhestand, schickte Simenon Maigret wieder zurück in seine Jugend, und die Leser durften verfolgen, wie sich Maigret als Polizist in seinem ersten Fall geschlagen hat. Der Roman »Maigrets erste Untersuchung« spielte im Jahr 1913 und ist einer der wenigen Roman, von dem man aus Rückschlüsse auf den Lebensweg von Maigret schließen kann. Aber Vorsicht: Simenon sah sich nicht als Chronist Maigrets, insofern ist jede Jahresangabe mit gewisser Zurückhaltung zu betrachten. 1949, zwei Jahre nach Maigrets erstem Einsatz in Amerika, gibt es wiederum einen Einsatz Maigrets in den USA. Diesmal hospitiert der Pariser Kommissar in Arizona, weshalb der Roman »Maigret beim Coroner« hierzulande auch unter dem Titel »Maigret in Arizona« lief. Wenn man sich diese Veröffentlichung betrachtet, kann man durchaus zu dem Schluss gelangen, dass Simenon nur über Themen und Orte schrieb, die er selbst besichtigt hat. Denn er schrieb kurz nach seiner Ankunft in den USA über New York, wohin es ihn anfangs ebenfalls verschlagen hat, und später zog es ihn nach Arizona. Wie Maigret.
Lange genug hatte Simenon in Paris gelebt, so war es für ihn nicht schwierig weiterhin Romane zu schreiben, in denen der Kommissar seine Fälle in Paris löste. Bemerkenswert aus dieser Zeit sind zwei Veröffentlichungen: Zum einen »Mein Freund Maigret«, welcher für mich mit zu den besten Maigrets gehört, und nicht in Paris sonder am Mittelmeer spielt. Hier muss der Kommissar eine Ermittlung auf der Insel Porquerolles durchführen, auf der auch Simenon in den dreißiger Jahren gelebt hat. Will man die Ruhe und Gelassenheit Maigret erspüren, so hat man mit diesem Roman die richtige Wahl getroffen. Die Ruhe, die von dem Wesen Maigrets ausgeht, wird in diesem Roman durch das Flair der Umgebung noch verstärkt, so dass vermutlich kein Leser unberührt lässt und so mancher von dem Blau des Meeres träumt - obwohl es um Mord geht und Maigret einen nüchternen englischen Inspektor an seiner Seite hat, der die Methode Maigrets zu ergründen sucht. Die Methode, von der immer die Rede ist, lässt sie hier treffend zusammenfassen: Ruhe bewahren und die Atmosphäre einsaugen; dann wird schon alles gut.
Bemerkenswert ist auch die Veröffentlichung von »Weihnachten mit Maigret«. Hierzulande kam die Erzählung in diversen Sammelbänden auf den Markt, aber nie in der Form wie in der ursprünglichen Form. Presses de la Cité hatte die Maigret Erzählung, in der Maigret an Weihnachten zu einer Nachbarschafts-Ermittlung herangezogen wird, zusammen mit zwei Non-Maigret-Erzählungen veröffentlichung. Was nach meinem Geschmack eigentlich recht schade ist, denn »Sieben Kreuzchen in einem Notizbuch« und »Das Restaurant am Place des Ternes« passen hervorragend zu der Maigret-Weihnachtserzählung. Aber hierzulande wird halt nicht gemischt. Maigrets sind Maigrets, und Non-Maigrets sind Non-Maigrets.
Die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts bringen so manch andere Maigret-Geschichte hervor, die herausragend ist. Schaue ich mir die Liste an, so finde ich keine einzige Story, die ich nicht wieder gern lesen würde. Das kann ich von den Geschichten der 30er Jahre und von denen der späten 60er Jahre nicht mehr behaupten. Ich würde mich so weit aus dem Fenster lehnen und sagen: Was die Maigrets angeht, so waren die Fünfziger eine Zeit ohne Fehl und Tadel.
Eine Perle für jeden Maigret-Liebhaber dürfte die Autobiographie Maigrets sein: In »Maigret Memoiren« lässt Simenon mal richtig Dampf ab und erzählt, wie es wirklich war. Der Humor guckt an jeder Ecke hervor und lässt erahnen, wo Simenon seine Wurzeln hatte - in der Parodie und Satire. Überhaupt findet sich, wenn man Humor in Simenons Werk finden will, dieser hauptsächlich in den Maigrets. In der komischen Ecke unter den Maigrets steht meines Erachtens auch »Maigret amüsiert sich«, und auch in den anderen Maigrets finden sich immer wieder mal komische Stellen, an denen man lacht oder zumindest lächelt. (Solche Momente sind nun in den Roman durs wahrhaft selten. Bei denen sollte man empfindsamen Seelen vielmehr raten, eine Packung Taschentücher in der Nähe bereitzuhalten.)