Depardieu als Maigret

Maigret zieht nicht seinen Hut


Seine Karriere begann mit Filmen für das breite Publikum und vielleicht ließen Titel wie »Die Strandflitzer« und »Sonne, Sex und Schneegestöber« nicht unbedingt darauf schließen, dass da ein Filmschaffender entwickelte, der sich einen Namen als Autorenfilmer machen sollte und dabei auch nicht vor Stoffen zurückschreckte, die nicht unkompliziert sind. Die Rede ist von Patrice Leconte, dessen letzter Film ein Maigret war.

In der Pressemappe zu dem Film war ein Interview zu finden, in welchem der Regisseur Auskunft über sein Film gibt – wie er zu Simenon kam und im Speziellen dazu, diesen Stoff zu verfilmen.

Wie war Ihre erste Begegnung mit Georges Simenon?
Wenn meine Eltern in den Urlaub fuhren und meine Großmutter auf uns aufpasste, brachte sie Bücher von Simenon mit, vor allem die Maigret-Romane. Sie ließ sie auf ihrem Nachttisch liegen und ich las einige von ihnen. Ich fand sie großartig, traute mich aber nicht, sie richtig zu lieben, weil ich mir einredete, dass es sich nur um »leichte Literatur« handelte. Als ich in der 12. Klasse war, sagte mein Philosophielehrer: »Wir werden einige Zeit mit Descartes, Hegel, Kierkegaard und Kant verbringen, aber Sie sollten wissen, dass der größte Philosoph für mich Georges Simenon ist«. Plötzlich wusste ich, dass ich diesen Autor zu Recht geschätzt hatte, mein Lehrer hatte ihn legitimiert. So begann ich, Simenon weiterhin regelmäßig zu lesen und liebte ihn noch mehr.

Was interessiert Sie an seinem Werk?
Was mir von Anfang an gefiel, war seine beinahe filmische Schreibweise: Simenon stellt normale Menschen, die auf den ersten Blick keine Story haben, in den Mittelpunkt. Erst im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass auch diese Menschen eine Story haben. Die Atmosphäre, die Orte, die Gefühle, das Unbehagen und diese oft erschütternde »Besetzung« rissen mich mit und berührten mich.

Es kommt selten vor, dass man diesen emotionalen Aspekt in Kriminalromanen findet, selbst bei den größten Autoren.
Ich war auch von der Wortökonomie, der Prägnanz und Simenons Fähigkeit, großartige Welten und seltsame oder schroffe Charaktere mit einem Minimum an Worten zu beschreiben, angetan. Seine Bücher sind nie länger als 200 Seiten und geradezu vorbildlich geschrieben.

Sie haben bereits vor etwa 30 Jahren mit »Die Verlobung des Monsieur Hire« (1989) eines seiner Werke auf die Leinwand gebracht.
Das war etwas ganz Besonderes, denn ich kannte »Panik« (1946) von Julien Duvivier, einem meiner Lieblingsregisseure, ohne zu wissen, dass es sich dabei um eine Verfilmung von »Die Verlobung des Monsieur Hire« handelte. Zum Spaß – und ein wenig provokativ – sagte ich, dass ich gerne ein Remake von PANIK drehen würde. Aber nach »Ein unzertrennliches Gespann« (1987) wies mich der Produzent Philippe Carcassonne darauf hin, dass ich kein Remake drehen müsse, sondern eine neue Adaption! Ich fiel aus allen Wolken, denn ich wusste nicht, dass es sich um einen Simenon handelte, und natürlich stürzte ich mich auf das Buch! Ich war also von der Geschichte angezogen ohne zu wissen, von welchem Autor sie stammt.

Obwohl es sich nicht um eine Simenon-Verfilmung handelt, ist »Das zweite Leben des Monsieur Manesquier« (2002) von einer Atmosphäre erfüllt, die sehr an den Autor erinnert...
Als ich das Drehbuch mit Claude Klotz geschrieben habe, habe ich nicht darüber nachgedacht. Dennoch schwebt Simenons Schatten über dem Film und vor allem über dem Originaltitel »L'homme du train«, der sehr »simenonisch« ist. Simenon wählte offensichtliche Titel, wie die Impressionisten, die, wenn sie ein Mädchen mit rotem Hut darstellten, ihr Bild mit »Das Mädchen mit dem roten Hut« betitelten. Bei Simenon hat mich die Selbstverständlichkeit des Titels schon immer begeistert.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, »Maigret und die junge Tote« – zweifellos eines seiner dunkleren Werke – zu verfilmen?
Jérôme Tonnerre, mit dem ich mehrere Filme geschrieben habe, und ich teilen die gleiche Bewunderung für Simenon und hatten große Lust, in seine Welt einzutauchen. Jérôme machte mich darauf aufmerksam, dass Maigret seit 1958 nicht mehr verfilmt worden war.* Wir wollten also einen »Maigret«-Roman verfilmen. Aber wir wollten, dass die Handlung in Paris spielt, weil Maigret in meinen Augen mit bestimmten symbolträchtigen Orten wie dem Quai des Orfèvres oder dem Batignolles-Viertel verbunden ist. Jérôme stieß dann auf »Maigret und die junge Tote«, das ich nicht kannte: Als ich es las, drängte es sich wie von selbst auf.

Warum war das so?
In den »Maigret«-Romanen tritt die Krimihandlung ein wenig in den Hintergrund und ermöglicht es, ein Universum zu beschreiben, Figuren einzuführen oder ein Quartier darzustellen. In diesem Opus findet man neben der Vorliebe des Autors für die Erkundung unterschiedlicher Welten auch einen neuartigen emotionalen Reichtum: Maigret begibt sich nicht so sehr auf die Suche nach dem Mörder, sondern nach dem mit Messerstichen übersähten jungen Mädchen, das niemand zu kennen scheint. Ich fand das umso erschütternder, weil Maigret selbst eine Tochter in diesem Alter gehabt hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre.

Worauf haben Sie und Jérôme Tonnerre bei der Adaption besonders geachtet?
Ich erinnere mich an einen Moment in meiner Zeit als Filmstudent, als Jean-Claude Carrière mit uns über die Kunst der Adaption sprach, ausgehend von »Tagebuch einer Kammerzofe« (1964), das er selbst von Octave Mirbeau für Buñuel adaptiert hatte. Er hat uns gesagt: »Um ein Buch, das man liebt, erfolgreich zu adaptieren, muss man es mehrmals lesen, dann zuklappen und nie wieder aufschlagen.« Wir befolgten seinen Rat und schrieben auf der Grundlage unserer prägnantesten Erinnerungen an das Buch eine Adaption, die sowohl treu als auch untreu war. Was mich sehr gefreut hat, war die Reaktion von John Simenon, dem »Tempelwächter« des Werks seines Vaters, von dem bekannt war, dass er auch »Das zweite Leben des Monsieur Manesquier« sehr mochte. Er war der Meinung, dass wir uns Freiheiten genommen hatten, die sein Vater geliebt hätte.

Welche Freiheiten waren das?
Unser Fokus lag auf der Suche Maigrets nach der jungen Toten, an die sich niemand zu erinnern scheint. Damit wir uns auf seinen Weg konzentrieren konnten, haben wir viele Nebenfiguren gestrichen. Um uns von der altbekannten Maigret-Ausrüstung mit Hut, Pfeife und Mantel abzuheben, die ich nicht mehr ertragen konnte, weil sie so konventionell ist, hatten Jérôme Tonnerre und ich die einfache Idee eines Arztes, der dem Kommissar rät, nicht mehr zu rauchen. Man sieht, wie er noch bedauernd an seiner Pfeife herumfummelt. Das ist ein integraler Bestandteil des von Depardieu verkörperten Maigret, der sich von den üblichen Darstellungen entfernt. In diesem Sinne heißt der Film auch nüchtern »Maigret« und nicht »Maigret und die junge Tote«, um klar zu machen, dass es sich um unseren Maigret handelt und nicht um den aus früheren Verfilmungen.

Wir tauchen sofort ein in ein gespenstisches Paris, das in einem fast expressionistischen Stil gefilmt wurde...
Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Film wie das Buch in den 1950er Jahren spielt. Dennoch hatte ich schon immer eine Abneigung gegen allzu minutiöse Nachbildungen, bei denen ganze Straßen mit Fahrzeugen aus der damaligen Zeit bevölkert sind, denn diese übertriebene Sorgfalt, die der Ausstattung gewidmet wird, lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Wesentlichen ab. Zwar handelt es sich um die 50er Jahre, aber ich wollte, dass der Film in Bezug auf die Inszenierung, das Licht, die Requisiten und die Kostüme sehr stilisiert ist. »Das zweite Leben des Monsieur Manesquier« sollte ein zeitloser Film werden, und wir hatten uns einen Spaß daraus gemacht, die chronologischen Anhaltspunkte zu verwischen. Bei »Maigret« waren wir etwas mehr verpflichtet, den Film genau zu datieren: Es gibt also keine anachronistischen Requisiten, aber auch keine zwanghafte Rekonstruktion, da man als Regisseur sonst zum Museumswärter wird.

Die Klassenverhältnisse und die von der Bourgeoisie zur Schau getragene Verachtung stehen im Mittelpunkt des Films.
In diesem sehr wohlhabenden bürgerlichen Milieu fungiert Maigret als Eisbrecher. Wäre er ein Kommissar, der auf die Sitten und Gebräuche einer gehobenen und reichen Schicht achtet, hätte er vor ihnen seinen Hut gezogen. Aber Maigret zieht auf keinen Fall seinen Hut, auch nicht vor den Reichen. Seine unkonventionelle und respektlose Seite verleiht der Figur Profil und degradiert die Bourgeois zu einer Klasse, die man nicht über das notwendige Maß hinaus berücksichtigen muss. Auch wenn Maigret mit seinem Vorgesetzten spricht, legt er weder seinen Mantel noch seinen Hut ab, als wäre er nur auf der Durchreise.

Auch die reiche bürgerliche Familie verbirgt unaussprechliche Geheimnisse...
Wenn diese Szenen tatsächlich gezeigt worden wären, wäre das Ergebnis unerträglich gewesen und ich hätte es als selbstgefällig empfunden. Wie auch immer, es gibt einen Standpunkt und nur einen – den des Kommissars Maigret. Um streng zu sein, war es undenkbar, Szenen zu drehen, bei denen Maigret nicht anwesend ist, es sei denn, man berichtet ihm davon. Man kann die Perversion weit treiben, ohne sie zu zeigen. Außerdem, so sagt Maigret, urteilt er nicht, auch nicht über bürgerliche Männer, die abartige Sexualpraktiken ausüben. Aber wenn er die Frage »Warum heiraten Sie, wenn Sie den Körper einer Frau nicht berühren können?« stellt, ist das von einer Brutalität, die ich großartig finde.

Maigrets Ermittlungen nehmen die Form einer sehr intimen, fast kathartischen Suche an.
Es gibt einen zerbrechlichen Moment, als Betty mit Frau Maigret Kaffee trinkt: Vom Badezimmer aus beim Rasieren hört der Kommissar sie lachen und er zeigt ein kaum merkbares Lächeln, denn es hätte das Lachen seiner Tochter sein können. Später gehen Maigret und seine Frau zur Beerdigung der jungen Toten und besuchen logischerweise auch das Grab ihrer Tochter. Auch als der alte Kaplan Maigret anvertraut: »Wenn man sein Kind verliert, verliert man alles, es gibt nichts mehr«, antwortet der Kommissar: »Ich weiß, Herr Kaplan, ich weiß«. Auch wenn es schrecklich war, ihn diese Worte sagen zu lassen, schien es mir wichtig, dass Maigret sie ausspricht.

Von den ersten Einstellungen an hat Gérard Depardieu eine Präsenz, die den ganzen Raum ausfüllt.
Ich denke an diesen Vers von Stéphane Mallarmé, der meiner Meinung nach Depardieu in Gestalt von Maigret wunderbar definiert: »Calme bloc, ici-bas, chu d'un désastre obscur« (dt. »Ruhiger Block, hier unten, von einer dunklen Katastrophe gestürzt«). Die Arbeit mit ihm hat sehr viel in mir ausgelöst. Ihn mitsamt seines Talents zu beobachten, ist faszinierend. Das Verrückteste ist, dass er seine ganze Zeit bis zur Klappe damit verbringt, laut zu sein. Aber in dem Moment, in dem man ihm sagt »Los, Gérard«, ist er mit einem Wimpernschlag so, wie man ihn im Film sieht. Er hat mir einmal erzählt, dass er sich auf diese Weise konzentrieren kann. Er muss der Antipode der Figur sein, um im Moment der Aufnahme die Figur zu sein. Was er schnell begriff und sehr schätzte, war die Tatsache, dass ich nur sehr wenige Takes drehe. Bei mir wissen die Schauspieler, direkt in der ersten oder zweiten Einstellung ihr Bestes geben sollen. Gérard fand das toll. Es gibt sehr viele Einstellungen, für die nur ein Take nötig war.

Gibt man einem Schauspieler wie Gérard Depardieu Anweisungen?
Er war sehr glücklich, dass wir zusammen drehten, und er fühlte sich sicher. Bei unserer ersten Begegnung habe ich ihm gegenüber vor allem meine Bewunderung zum Ausdruck gebracht habe. Es herrschte Hochachtung und Respekt zwischen uns. Am Set hütete ich mich davor, ihm zu viele Anweisungen zu geben: Ich machte ihm Vorschläge zum Rhythmus oder zur Tonlage, aber er hatte ein so gutes Gespür für die Rolle, dass ich ihm bei den meisten Aufnahmen nichts zu sagen brauchte. Er war da, wo er sein musste und wann er es musste. Es wird alles Mögliche über ihn gesagt. Sogar, dass er sich nicht auf seine Rollen vorbereitet – das ist völlig falsch, denn es ist unmöglich, so zu sein, wie er im Film ist, ohne vorher daran zu arbeiten. Ich glaube, dass er die Figur geerdet hat: Er hat ein unmittelbares Gespür für den Tonfall, die Szene, den Einsatz, die Aussage. Da zwischen uns Vertrauen herrschte, war er stets sofort einverstanden, wenn ich ihm vorschlug, die Tonalität der Szene zu ändern. Er liebt es zu spielen. Ihm gefiel es, einen Charakter zu spielen, der so groß ist wie er selbst. Er hatte schon lange nicht mehr die Gelegenheit dazu gehabt.

Wen wollten Sie als Gegenspieler von Depardieu?
Ich wollte eine brillante Besetzung, aber ich wollte keine allzu bekannten Schauspieler, die nur kurz im Film auftauchen. Sehr schnell dachte ich an Mélanie Bernier für Jeanine, weil ich sie gut kenne und sie diese etwas volkstümliche Figur, die sich anmaßt, in einem bürgerlichen Milieu zu verkehren, ideal verkörpert. Ich dachte auch an Anne Loiret als Madame Maigret. Das war keine offensichtliche Wahl: Sie sollte weder ein Hausmütterchen sein, noch eine Sexbombe, weil das niemand glauben würde. Ich brauchte nur jemanden, der in sich ruht. Als ich Anne im Theater sah, fand ich sie perfekt. Schließlich brauchte ich noch zwei sehr junge Schauspielerinnen: Ich ließ mir von meiner Casting-Direktorin Tatiana Vialle helfen, die mir viele Kandidatinnen vorstellte. Jade Labeste war die perfekte Besetzung. Depardieu erkannte sofort, dass er es mit jemandem zu tun hatte, der das Zeug für die Rolle hatte. Sie war zwar diskret, ließ sich aber nie von Gérard einschüchtern und verlor nie den Boden unter den Füßen. Sie ist eine sehr gute Schauspielerin.

In welche Richtung haben Sie mit dem Licht und der Fotografie gearbeitet?
Ich finde es immer sehr spannend, mit Kameramann und Ausstattungsleiter bei den Dreharbeiten darüber nachzudenken, woher das Licht kommt. Bauen wir ein Oberlicht ein und gehen davon aus, dass das Licht von dort kommt und die Silhouetten zerschneidet, oder kommt es aus dem Boden? Diese Entscheidungen wirken sich auf den Bau der Kulissen und alles weitere aus. In Maigrets Büro gibt es zum Beispiel nur ein einziges Fenster, das die Richtung des Lichts bestimmt.

Wie so bei Ihren Filmen ist »Maigret« nicht länger als 90 Minuten, was dem Film die Wirkung eines gestrafften, intensiven Werks verleiht.
Ich halte meine Filme gerne kurz. Das liegt vielleicht daran, dass ich 250 Werbefilme gedreht habe und weiß, dass man es schaffen muss, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Diese Balance finde ich gerne: Ich schätze es, wenn es keine unnötigen Szenen gibt. Mit Jérôme Tonnerre bin ich in der Regel streng genug, um keine unnötigen Szenen zu schreiben – und zu drehen –, die später herausgeschnitten werden müssen.

Es ist das erste Mal, dass Sie mit Bruno Coulais zusammenarbeiten.
Ich bewundere seine Arbeit schon lange und hoffte, dass wir mal zusammenarbeiten würden, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Ich bin überhaupt kein Musiker, aber ich weiß, was ich mag und was ich nicht mag. Jedes Mal, wenn ich mit einem Musiker zusammenarbeite, versuche ich, meine musikalischen Wünsche in Worte zu fassen. Wenn ich Bruno von Musik erzähle, die wie ein etwas seltsamer Nebel über dem Boden schwebt, oder von Musik, die über unseren Köpfen schwebt, gelingt es ihm, eine atmosphärische Partitur zu schreiben – wobei er sich auch auf das Drehbuch und unsere Gespräche stützt. Ich sprach mit ihm über eine Musik, die nicht symphonisch ist, sondern sehr sparsam. Ich wollte auch, dass die Musik etwas Besessenes hat, denn für Maigret ist der Film die Suche nach der Identität dieses toten Mädchens. Maigret hat etwas Ruhiges und Stures an sich, und ich wollte, dass die Musik zu dieser Hartnäckigkeit beiträgt. Gleichzeitig wollte ich eine etwas bewegte Erinnerung daran, wer dieses tote Mädchen war – eine leichtere Musik, die die mögliche Erinnerung an die Verstorbene begleitet.

 

* In Bezug auf Frankreich mag das stimmen, global gesehen nicht.