Angel Oak

Profiliert


Maigret war nicht das erste Gewohnheitstier in der Kriminalgeschichte, aber wohl das erste Gewohnheitstier, was sich als Kriminaler in Paris niedergelassen hat. Ein kleines (Täter-)Profil.

Die einfachste Art, etwas über Maigret zu erfahren, ist sicherlich der Griff zu den Maigret-Erzählungen. Die zweite Möglichkeit - quasi ein Extrakt – sind »Maigrets Memoiren«, in der Simenon Maigret seine Hauptfigur und sich selber auf den Arm nimmt. Welcher Schriftsteller lässt schon seine Hauptfigur in seiner Wohnung wohnen?

Jules Maigret stammt aus Mittelfrankreich, genauer: er wurde 1884 in Saint-Fiacre im Départment Allier geboren. Es kann letztendlich auch nach 1900 gewesen sein, Zeit spielt bei Simenon keine Rolle. Andere Quellen geben andere Geburtsdaten an: Nicole Geeraert 1884 bzw. 1886, Alfred Marquart zum Beispiel 1887. In »Maigret und der Messerstecher« ist von Hippies die Rede und der Tatsache, dass Maigret 63 Jahre alt sei (und die Pensionsgrenze unglücklicherweise von 65 auf 68 heraufgesetzt wurde – wie die Tage sich doch ähneln!). In einer anderen Erzählung »Maigret und der einsame Mann« wird die Handlung auf 1965 datiert und Maigrets damaliges Alter mit 55 angegeben: Geburtsjahr 1910. Auch der Name spielt bei Simenon keine Hauptrolle. Man kann froh sein, dass er seinen Kommissar über die Jahre Maigret heißen ließ – in »Maigret und sein Revolver« wurde aus Amédée François plötzlich Joseph Anthelme, ein Name, den ich persönlich nicht besonders schön finde. (Oder sollte das eventuell eine Frage des Übersetzers sein?) Sein Vater – Jean-Pierre Maigret in der einen Erzählung, Evariste Maigret in einer anderen (»Maigret erlebt eine Niederlage«/»Maigret und die Affäre Saint-Fiacre«) – war Verwalter auf einem Gut. Ein sehr großer, magerer Mann, dessen Familie durch eine Typhus-Epidemie umkam. Es blieb nur eine Schwester, die später nach Nantes zog und dort einen Bäcker heiratete. Dieser machte sich Hoffnung, Maigret als Nachfolger zu etablieren, wozu es aber bekanntlich nicht kam. Maigrets Mutter hatte ihre Eltern in der Nähe zu wohnen, sie hatten ein Lebenmittelgeschäft in einem kleinen Ort. 1894 kam Maigrets Mutter bei der Niederkunft ums Leben. Schuld daran war die Trunkenheit des Dorfarztes. (Dieser hatte vor Jahren in einem ähnlichen Fall schon einmal versagt, Jean-Pierre Maigret gab dem Arzt eine zweite Chance. Der Preis war hoch.)

Die Herrschaften des Gutes werden in der Erzählung »Maigret und die Affäre Saint-Fiacre« ausgiebig gewürdigt.

Vier Jahre nach dem Tod der Mutter wurde Maigret auf das Gymnasium nach Moulins geschickt, kurze Zeit später nach Nantes zu seiner Tante – er war dort »der Neffe des Bäckers«. Er ging dort zur Schule und fing dort später an zu studieren. Im Alter von 44 starb sein Vater an Schwindsucht, einem Leiden dem auch Maigrets Tante erliegen sollte, und nach der Beerdigung brach Maigret das Studium ab. Er ging nach Paris – 20 Jahre jung.

Der Mann, der Maigret zur Polizei brachte, hieß Jacquemain. Er wohnte im Nachbarzimmer eines kleinen Hotels. Maigret schien es, als wäre er Junggeselle. Er war immer korrekt gekleidet, ging morgens zu festen Zeiten aus dem Haus, kehrte aber unregelmäßig heim. Sie kamen ins Gespräch, nachdem sie – jeder für sich – in einem Restaurant gespeist hatten und zum Hotel zurück gingen. Der Polizeiinspektor Jacquemain, der drei Jahre später nach der Werbung durch eine »verirrte« Kugel ums Leben kam, warb Maigret für die Polizei. 1909 trat Maigret in die Polizei ein.

[Maigret über sich selbst und den Tod seines Entdeckers Jacquemain]
Ich wusste nicht, dass ich so bald schon zu seinem Begräbnis gehen würde. Meine Prognosen über die Zukunft meiner Mitmenschen ließen zu wünschen übrig.

Die erste Zeit war kein Zuckerschlecken, in der damaligen Zeit begann jeder als Uniformierter auf der Straße – auch Maigret. Mehrere Monate schlängelte sich Maigret mit dem Rad durch die Droschken und Pferde-Busse, um Briefe und andere Schriftstücke von einem Amt zum anderen zu transportieren.

Ich war noch ledig. Die Uniform hinderte mich, jungen Mädchen den Hof zu machen. Ich beschloss, dass mein wahres Leben erst an dem Tag beginnen würde ,da ich das Haus am Quai des Orfèvres nicht mehr nur als Überbringer von Dienstmeldungen, sondern als Inspektor betreten würde, und zwar über die Haupttreppe.

Eine nette Geschichte, die detailliert in »Maigrets Memoiren« beschrieben wird, ist die Begegnung mit der künftigen Madame Maigret, die er im Jahr 1912 heiratete.

1913. Maigret hatte diverse Abteilungen »durchlaufen« und arbeitete zu der Zeit als Sekretär eines Kommissars im Quartier Saint-Georges, hatte er die Ehre, seinen ersten Fall bearbeiten zu dürfen (siehe »Maigrets erste Untersuchung«). Es ist in der ersten Linie seinem Fleiß zu verdanken, den er in diesem Fall bewies, und nur in zweiter Linie, dass er von Guichard überwacht und gefördert wurde, dass Maigret nach Abschluss dieser Untersuchung, an den Quai delegiert wurde, wo er sechsundzwanzigjährig als Inspektor eintrat.

Maigret wohnte mit seiner Frau seit einer Ewigkeit am Boulevard Richard Lenoir. Dieses Viertel ist nicht »erste Wahl«, aber Maigret hat keine Ambitionen von dort wegzuziehen:

Gewohnheitssache… Freunde und Kollegen hatten in den dreißig Jahren schon hundertmal eine Wohnung für ihn gefunden, in, wie sie es nannten, freundlicheren Vierteln. Er hatte sie sich angesehen und gemurmelt:
»Schön ist sie ja schon…«
»Und die Aussicht, Maigret!«
»Ja…«
»Die Räume sind groß und hell…«
»Ja.. Es ist alles, wie man sich’s nur wünschen kann… Ich würde mit Begeisterung hier wohnen… Nur…«
Er hatte eine kleine Pause gemacht, geseufzt und den Kopf geschüttelt:
»... ich müsste umziehen!«

Sogar die Hausnummer teilt Simenon uns mit. Maigret gibt in »Maigret und sein Toter« eine Annonce auf, um Zeugen zu einer Aussage zu motivieren und glaubt, dass eine neutrale Umgebung hilfreich wäre:

Freunde von Albert unbedingt zu eigener Sicherheit bei Maigret melden. Boulevard Richard-Lenoir 132. Absolute Diskretion ehrenwörtlich zugesichert.

Aber auch bezüglich der Wohnung lässt Simenon keine Unklarheit aus. In der Erzählung »Madame Maigrets Liebhaber« steht zum Beispiel: So begann der Kommissar in all den Jahren, die sie schon an der Place des Vosges wohnten, im Sommer bereits auf den ersten Stufen der Treppe, die vom Hof hinaufführte, den Knoten seiner dunklen Krawatte zu lösen, wofür er meistens bis in den ersten Stock brauchte. Über die wichtige Information hinaus, dass Maigret dunkle Krawatten trägt, erfährt der geneigte Leser, dass er im zweiten Stock wohnte. Die Sache hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: der Place des Vosges liegt zwar nicht sehr weit vom Boulevard Richard Lenoir entfernt, aber er liegt halt nicht an diesem. Unerschöpfliches Reservoir, um solche Unklarheiten zu erklären, beseitigen oder zu entschuldigen, die die Erzählung »Maigrets Memoiren«. Maigret äußerst folgendes zu dem Thema:

»Place des Vosges«.
Und ich kann mich eines Lächelns der Genugtuung nicht erwehren, denn es beweist, dass auch sie gewisse Dinge zu berichtigen hat, eine Kleinigkeit jedenfalls, und das aus dem gleichen Grund wie ich: aus Treue.(»sie« ist Madame Maigret)
Bei ihr ist es die Treue zu unserer Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir. Wir haben sie nie aufgegeben, wir behalten sie, auch wenn wir sie nur ein paar Tage im Jahr benutzen, seitdem wir auf dem Land leben.
In mehreren seiner Bücher lässt Simenon uns an der Place des Vosges wohnen, ohne dies auch nur im geringsten zu erklären.

Nachfolgend stellt Maigret klar, dass sie nur ein paar Monate am Place des Vosges gewohnt hätten, dies aber nur, weil der Vermieter ihr Haus renovieren ließ. Da sich die Bauarbeiten aufgrund eines Streikes ewig hinzogen, bot ihnen Simenon (!) an, in seiner Abwesenheit – er unternahm eine »Expedition« nach Afrika – bei ihm zu wohnen. Die genaue Adresse: Place des Vosges 21.

Aber auch diese Klarstellung hat ihre Tücken. Beim Schreiben von »Maigrets Memoiren« vergaß Simenon wohl seine fünf Jahre alte Erzählung»Maigret regt sich auf«, in der Maigret schon zwei Jahre im Ruhestand ist und trotzdem eine Wohnung am Place des Vosges hat. Aber so wichtig ist es ja auch nicht, oder doch?

Hat Maigret überhaupt mal Freizeit? Eine gute Frage. Wenn Maigret zu Hause ist, so ist meist die Rede davon, dass er entweder Radio hört oder er seine Frau ins Kino einlädt. Dabei zeigt er eine ausgesprochene Vorliebe für Krimis und Gangsterfilme, wenn er den Film nicht verschläft.

In späteren Jahren gab es dann auch Fernsehen. Hierzu steht in der Erzählung »Maigret und der Messerstecher«:

Am [Im] Fernsehen im ersten Programm lief eine Gesangsrevue, und die Sängerinnen und Sänger traten gleich dutzendweise auf. Maigret konnte das nicht leiden. Im zweiten kam ein alter amerikanischer Film mit Gary Cooper; das wollten Maigret und seine Frau schon eher ansehen.

In »Maigret und der Samstagsklient» berichtet Simenon zum Thema Fernseher, dass man sich in früheren Zeiten beim Abendbrot gegenüber gesessen hat, die Anschaffung des Fernsehers die Sitzordnung aber verändert habe, da weder der eine noch die andere gewillt waren, den Kopf zum Verfolgen des Programms ständig umzudrehen.

Wenn Maigret auch nicht viel Freizeit hatte, einen guten Freund gönnte Simenon ihm wohl: Dr. Pardon. Der Arzt, aus dem hätte soviel werden können, der aber lieber Allgemeinmediziner in einem der ärmeren Viertel war. Zu ihm werden die Maigrets ungefähr einmal im Monat eingeladen, der Doktor frönt dann seiner Leidenschaft: dem Kochen. Angeboten wird jedes Mal ein Gericht, einer bestimmten regionalen Küche. (Er vergisst aber nie, sich vorher bei den eingeladenen Gästen zu erkundigen, ob sie die »geplanten« Speisen auch mögen.)

Mit Politik hat Maigret nichts am Hut – hier und da ein Fall eines verschwundenen Minister-Bengels (Fälle unter politischer Obhut), aber politische Äußerungen aus dem Munde Maigret sind undenkbar. Vielmehr wird beschrieben, dass sobald sich ein Gespräch in Richtung Politik bewegte, Maigret eine undurchdringliche, fast dümmliche wirkende Miene aufzusetzen pflegte.

Maigret fährt ja nicht, den Führerschein hat seine Frau gemacht. Wenn der Kommissar zum Tatort will, greift er entweder auf die öffentlichen Verkehrsmittel Busse oder Taxis zurück (entweder lässt er sich eines von Madame Maigret rufen oder er geht zum nächsten Taxistand) oder er benutzt einen Dienstwagen. Bei diesen, in den Romanen immer als »schwarze Wagen« geschilderten Autos, handelt es sich um den Renault 4 CV, der wie der Käfer von Volkswagen von Ferdinand Porsche konstruiert wurde. Im Volksmund wurde der Wagen »Crèmeschnittchen« genannt, er war einer der wenigen Viertürer der damaligen Zeit. Die französische Polizei war damals ganz pfiffig: sie baute die Vordertüren des Renaults aus und versah sie mit Ketten, damit die Flics nicht aus den Autos fielen. So waren sie in der Lage während der Fahrt auf Verfolgte zu schießen.*

Ganz glatt ging es mit der Karriere des Kommissars nicht. Nach der Zusammenlegung von Kriminalpolizei und Sûreté fiel Maigret in Ungnade und wurde nach Luçon versetzt. Die Wohnung in Paris behielt er in der Zeit, aber auch Madame Maigret wohnte während dieser Zeit in Luçon in einer kleinen Mietwohnung.

Ein kleiner Sprung in Richtung »Ende der Laufbahn«: Drei Jahre vor der Pensionierung wird Maigret der Posten des Direktor der Kriminalpolizei angeboten. Zur Überraschung des Polizeipräsidenten – in seiner Folge wohl auch des Innenministers – lehnt Maigret ab (»Maigret und Monsieur Charles«). Er will nicht Tag für Tag mit Papierkram kämpfen, sondern lieber Verdächtige verhören und Ermittlungen auf der Straße und in den Bistros führen. Maigret ist mit seinem Posten als Chef der Kriminalbrigade absolut zufrieden.

Auch die ehrenamtlichen Tätigkeiten des Kommissars sollen nicht verschwiegen werden: eine zeit lang ist Maigret Vizepräsident des Polizeihilfswerks.

Ein harter Schlag ist aber die Heraufsetzung des Pensionsalters. Als Maigret 63 Jahre alt ist – er hätte zu diesem Zeitpunkt noch zwei Jahre zu arbeiten gehabt – wird die Pensionsgrenze auf 68 Jahre erhöht (Quelle: »Maigret und der Messerstecher«).

Allerdings ist sich Simenon nicht an jeder Geschichte treu. In der Erzählung »Maigret und der Fall Nahour« wird Maigret hartnäckig als Chef der Kriminalpolizei tituliert. Vielleicht ist dies auch nur ein Übersetzungsfehler. Maigret ist viele Jahre lang Chef der Sonderbrigade bzw. der Mordkommission der Pariser Kriminalpolizei. Seine Polizeimarkennummer ist die 0004 (die 1 war dem Präfekten, die 2 dem Direktor der Kriminalpolizei und die 3 dem Chef des Nachrichtendienstes vorbehalten).